Smog, fehlende Busspuren, Fußgängertunnel und -wege, unsinnige Ampelschaltungen, wilde Müllkippen und Hunde. Aber auch grüne Hügel, blühende Bäume, Schaschlyk, Schach, Eingelegtes und einmalige Menschen. Almaty – mit den Augen einer aus Deutschland Zugereisten gesehen – ist eine Stadt der Ambivalenzen.

/Bild: Dagmar Schreiber. ‚Ähnliche Dunstglocken kennt man von Großstädten wie London oder L.A. Almaty liegt zudem in einem Kessel zwischen Bergen und Steppe. Klare Luft ist hier selten.’/

Die Tulpen auf dem Mittelstreifen sehen prächtig aus. Ich rase vorbei und kann mich kaum satt sehen. Ein Beet mit roten Tulpen, eins mit gelben, eins mit weißen. Almaty ist eine Stadt für kurzlebige Wesen wie Tulpen. Jährlich nur ein paar Wochen oberirdischen Daseins ist ihnen gegeben, und sie sehen gut aus – trotz des Smogs. Menschen leben länger, Bäume auch. In ihrem Almatyer Erdendasein müssen sie so viele Abgase schlucken, dass sie mit jedem Jahr elender ausschauen. Auch hier, diese jämmerlich vergilbten Nadelbäume in der Mitte der Al-Farabi. Wir brausen an einem rosa Tulpenbeet vorbei, jetzt an einem violetten. Halt. Hier muss ich raus. 400 Tenge für den schweigsamen Taxifahrer, der Motor heult auf, weg ist er.
Haben Sie schon mal versucht, auf der Höhe von Nurlytau die Al-Farabi zu überqueren? Als Fußgänger, meine ich? Nein? Tun sie´s nicht. Es ist zwecklos. Ich stehe jetzt schon ca. 10 Minuten hier, keine Ampel, kein Fußgängertunnel weit und breit, und der Strom der Fahrzeuge will und will nicht abreißen. Ich stoße gotteslästerliche Flüche aus, sie bleiben ungehört. Ungeachtet der jüngst geäußerten präsidialen Missbilligung rasen die Jeeps an mir vorbei. Keine Lücke, nirgends. Schließlich wage ich ein paar Känguruhsprünge, Hupen gellen, Bremsen quietschen, ich bin drüben, lebendig. So, jetzt muss ich nur noch Haus 1A finden. Ich betrete den linken der Glitzertürme und frage den Portier. Njet, weiß er nicht, aber wahrscheinlich weiter unten. Ich drücke mich am blechernen Bauzaun entlang, neben mir tobt der Verkehr. Wer hat sich das hier ausgedacht, kein Platz für Menschen, die auf ihren eigenen Beinen gehen wollen. Den obersten Stadtplaner würde ich gern mal kennenlernen. Meine ganze Wut würde ich ihm ins Gesicht schimpfen. Die idiotischen Ampelschaltungen, die fehlenden Busspuren, die versprochene und immer noch nicht fertiggestellte Metro, der Wildwuchs von Protz und das Einebnen liebenswerter und grüner Stadtviertel.

Versuch im Haus 2A. Keine Ahnung, sicher aber auf der anderen Seite. Nein, mittendurch darf man nicht gehen, nur außen herum. Raus auf den Parkplatz, 200 Autos, keine Menschenseele. Es ist kalt und nieselig, aber ich beginne zu schwitzen, der Rucksack mit dem Laptop und den Büchern drückt gehässig. Mahatma-Gandhi-Straße. Okay, im Vergleich zum Langen Marsch des indischen Pazifisten ist das hier ein Klacks. Grimmig setze ich meine Umrundung des angeberischen Bürokomplexes fort. Haus 4A. Die Dame am Eingang pudert ihre Nase. Was – Haus 1A? Gibt es das hier überhaupt? Es ist das Nachbargebäude, ca. 100 Meter vom Ausgangspunkt meiner Suche entfernt.

Ich bin drin, sirrend schließt sich die Fahrstuhltür hinter mir, ich entferne mich vertikal vom motorisierten Wahnsinn. Die Aussicht von hier oben ist ja eigentlich ganz schön.

Stadt der Hunde

Schlaflos in Almaty. Ich wohne an der Ecke Rosybakijewa – Utepowa. Den Autolärm tagsüber verpasse ich meistens. Abends dann, wenn der Verkehr verebbt und auch die Shoppingfahrten vom und zum Mega Center und Discounter Arzan langsam nachlassen, machen wir die Fenster auf. Irgendjemand klopft kurz vor Mitternacht noch Teppiche, zwei Besoffene streiten grölend, jemand fährt mit geöffneten Autofenstern und lauten Heavy-Metal-Klängen in den Innenhof. Plötzlich ist Ruhe. Ich schlafe ein. Für ein Weilchen. Dann hebt es draußen an, das Konzert der Vierbeiner. Der Riesenschnauzer des Nachbarn macht den Anfang, die herrenlosen Streuner fallen ein. Schwitzen oder Lärm? überlege ich kurz, dann mache ich das Fenster wieder zu. Schwitzen. Woher kommen eigentlich all diese Köter? Bei Tag sehe ich kaum mal einen. Wo leben sie?

Ich erfahre es zufällig während eines Regenspaziergangs. Der Urjuk beginnt zu blühen, und ich will eine Runde durch den „tschastnyj sektor“ drehen, um die Aprikosenbäume mit ihren regennassen Blüten zu fotografieren. Südlich und westlich von unserem Wohn-„Massiv“ gibt es sie noch, die kleinen alten Häuschen aus dem Alma-Ata der Anfangszeit. Von Gärtchen umgeben, ducken sie sich zwischen den Plattenbauten der Siebziger und Achtziger und weichen allmählich den Betonburgen der Neuzeit. Schade eigentlich. Hier, ein windschiefes Hüttchen unter einer Aprikosenblütenwolke. Der Baum ist fast zehn Meter hoch. Gegenüber einer dieser scheußlichen Bauzäune aus Profilblech. Überall in der Stadt versperren sie einem den Blick und den Weg. Eine Stadt im Belagerungszustand. Ich suche eine Lücke in der Blechwand und finde sie, krieche durch und erstarre.

Hier sind sie – die Hunde. Dutzende wühlen in den wilden Müllkippen herum, die sich hinter den Bauzäunen auftürmen. Als sie mich bemerken, ziehen sie sich knurrend zurück. Zwischen den Ruinen hängt Wäsche auf einer Leine. Illegal zugezogene Dörfler haben halbkaputte Abrisshäuser besetzt und hausen jetzt hier zwischen Müll und Bauschuttbergen. Zwei Jungs holen mit Kübeln Wasser vom einzigen noch erhaltenen Brunnen. Neugierig sprechen sie mich an, wollen wissen, was ich suche, möchten fotografiert werden. Ich bin in eine Welt eingedrungen, die es eigentlich nicht geben darf. Wie ein Voyeur komme ich mir vor, grüße entschuldigend – und verschwinde durch die Blechwand.

Stadt der Menschen

Die grünen Hügel Almatys. Noch vor zwei Monaten hätte ich nicht für möglich gehalten, dass es wieder passiert. Irgendwann, dachte ich, machen die Bäume das nicht mehr mit und treten in einen Streik, weigern sich, ihre Blätter in diese dicke Luft zu entlassen. Aber nun ist es soweit. Es hat geregnet, fast ununterbrochen, zwei Wochen lang. Ganze Stadtviertel wurden überflutet, man konnte es allabendlich in den Nachrichten sehen. Was ist eigentlich mit der Kanalisation? Und warum werden die Almaty duchziehenden Wasserkanäle, die Aryks, nicht endlich so hergerichtet, dass sie solche Wassermassen aufnehmen und abführen können? Aber ich schweife ab. Es hat geregnet, die Aprikosenbäume haben geblüht, die Luft war tatsächlich ein paar Tage lang durchsichtig. Jetzt, wo es ein bisschen wärmer wird nach den Niederschlägen, brechen die Blätter aus den Knospen hervor. Die schäbigen Fassaden verschwinden hinter wucherndem Grün. Die Geräusche verlieren an Heftigkeit. In den chaotischen Vorgärtchen harken die Einwohner der unteren Etage den Müll weg und pflanzen Blumen. An der Stirnseite des Hauses schräg gegenüber hat der nette alte Säufer einen Schaschlyk-Grill aufgebaut und brutzelt mit gesenktem Kopf zwei Fleischspieße. Dann setzt er sich auf sein wackliges Bänkchen und isst selbstvergessen. Unweit der Straßenbahnhaltstelle haben die alten Männer in ihren abgetragenen Jacken wieder das Schachtischchen in Beschlag genommen, die erste Partie des Jahres findet statt. Auf dem Garagendach hopsen mit ohrenbetäubendem Getöse zwei kleine Jungs herum – weiß der Teufel, wie sie da hochgekommen sind. Eine alte Frau in Filzlatschen schlurft vorsichtig durch den grünen Tunnel, den die Sträucher und Bäume an der Rückseite des Hauses jetzt wieder bilden. Sie zieht einen Geruch von frischgestärkter Wäsche hinter sich her und ihr Blick verweilt still auf dem Blütenschmuck der knorrigen Apfelbäume.

Auf der Gagarina sitzen wieder die Babuschki und verkaufen Obst, Gemüse, Blumen, eingelegte Gurken, Tomatenpüree, Krimskrams und alte Bücher. Auch „meine“ Babuschka ist dabei und hat mir, wie unlängst versprochen, ein Glas Knoblauchgurken reserviert. Bald gibt es neue Gürkchen, sagt sie verschwörerisch.

Ich wollte umziehen in eine „bessere“ Gegend – aber jetzt habe ich es mir anders überlegt und bleibe hier. Mindestens bis zum nächsten Einbruch von Gram und Grau.

Von Dagmar Schreiber

01/05/09

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