Viele Kirgisen entdecken das Nomadentum wieder. Jedes Jahr im Sommer ziehen sie mit ihrem gesamten Haushalt auf die Sommerweide. Für die modernen Nomaden lohnt sich die alte Tradition nach dem Zerfall der sowjetischen Kolchose wieder. Viele von ihnen haben damit bereits einträgliche Familienunternehmen gegründet.

/Bild: Edda Schlager. ‚Für Ainura ist die Zeit auf der Sommerweide sehr anstrengend. Von morgens bis spät abends ist sie auf den Beinen, Zeit zum Ausruhen gibt es kaum.’/

Mit einem wild gewordenen Hengst legen sich auch Kirgisen nicht gerne an, obwohl die meisten von ihnen schon auf einem Pferd saßen, bevor sie laufen konnten. Deshalb springen die Männer von Bachyt, einem kirgisischen Nomaden, schnell zur Seite, wenn wieder einmal ein Hengst ausbricht. Sie sind gerade dabei, einen kräftigen Schimmelhengst von den Stuten abzudrängen. Das gehört zur Vorbereitung auf das Sommerlager, in das Bachyt und seine Familie am nächsten Morgen aufbrechen.

Bachyt gehört zu den letzten Nomaden Kirgisistans. Den Winter verbringen er und seine Familie in ihrem Heimatdorf. Das liegt in einem breiten Tal am Unterlauf des Chon-Kemin-Flusses, der sich von Ost nach West durch die Bergketten des Trans-Ili-Alatau windet, dem nördlichsten Rand des Tienschan-Gebirges an der Grenze zwischen Kasachstan und Kirgisistan. Doch jedes Jahr im Sommer zieht Bachyt mit all seinen Yaks, Pferden, Schafen, Ziegen und Rindern – an die 600 Tiere sind es – auf die Sommerweide, den Jailoo. Der liegt 100 Kilometer flussaufwärts, zwischen 4.000 Meter hohen Bergen am Oberlauf des Chon-Kemin.

Fast der gesamte Haushalt – Kommode, Geschirr, Bettdecken und Kleidertruhen, dazu Sonnenbatterien und Dieselgenerator für die Stromversorgung – werden im Winterquartier gepackt. Alles landet auf einem alten russischen Militärlaster, der es dann an den Ort der Sommerfrische bringt. Auch der Schimmelhengst muss sich in das Regime fügen. Einer der Männer wirft ihm einen Strick um den Hals und streift ihm ein Halfter über. Am nächsten Morgen, wenn der Nomaden-Treck aufbricht, wird ein Hirte den Schimmel reiten und die Stuten treiben. Mit den Leithengsten hinter sich laufen die fast von allein.

Im Einklang mit der Natur

Erst seit einigen Jahren besinnen sich die Kirgisen wieder auf das Nomadentum. Es ist inzwischen viel leichter, in die Sommerfrische zu wechseln als bei den Vorfahren. Die packten all ihre Habe noch auf Pferde, selbst die Jurten, die runden Filzzelte der Nomaden Zentralasiens, mit ihren langen Holzgestängen und dem hölzernen Rauchabzug, dem Tündük. Die Groß- und Urgroßeltern waren das ganze Jahr auf Wanderschaft, nutzten in jeder Jahreszeit andere Weidegründe, ganz auf die begrenzten natürlichen Ressourcen ihrer Heimat abgestimmt.

Als Kirgisistan dem Sowjetreich angegliedert wurde, propagierten die Kommunisten Sesshaftigkeit. Aus den Nomaden wurden Dorfbewohner, aus Hirten Kolchosbauern. Doch weil Kirgisistan seit dem Ende der Sowjetunion in einer Wirtschaftskrise steckt, sehen die ehemaligen Kolchosbauern in den alten Traditionen wieder eine Chance. Den Winter verbringen sie in ihren Heimatdörfern, das Vieh bleibt in der Nähe und kehrt abends in die Ställe zurück. Doch im Sommer treibt es viele Kirgisen heute wieder auf die hoch und weitab gelegenen Bergweiden, dahin, wo die Tiere sich rund fressen können für den Winter.
Auch Bachyt ist stolz auf das Erbe, das er wiederbelebt hat: „Als die Kolchosen hier abgeschafft wurden,“ sagt er, „gab es keine Arbeit für uns. All das hier habe ich mit meinen Händen geschaffen. Jetzt bin ich mein eigener Herr und das Geld, das ich verdiene, kommt auch nur mir und der Familie zugute.“ Heute leben er, seine Brüder und deren Familien gemeinsam von der Landwirtschaft. Während seine Brüder die Feldarbeit besorgen und Futtervorräte für den Winter anlegen, kümmert sich Bachyt um das Vieh. Er nimmt auch Tiere „in Pension“. Etwa ein Drittel der Herde gehört Bachyt nicht.

Deshalb ist Bachyt am nächsten Tag auch in heller Aufregung. Denn ein paar Kilometer nach dem Start gerät der Treck ins Stocken. Die Kühe mit ihren Kälbern wollen stundenlang keinen Schritt mehr gehen. Es ist ein ungewöhnlich heißer Tag, und die Kühe flüchten in die schattigen Bäume am wild schäumenden Fluss. Plötzlich fehlen ein paar Tiere. Die Tiere zu suchen, kostet Zeit. Doch wenn der gesamte Treck dort aufgehalten wird, führt der Fluss im oberen Teil des Tales vielleicht schon zu viel Wasser und die Herden können ihn nicht mehr überqueren. Der Treck verliert viel Zeit bei der Suche nach den Kühen, am Ende finden sich jedoch alle verlorenen Tiere wieder.

Drei Tage hat Bachyt für den Aufstieg zum Jailoo eingeplant. Von den kleinen Auenwäldern im unteren Teil des Flusses geht es immer weiter aufwärts, in einer Landschaft, die sich stündlich wandelt. Einen Tag später führt der Weg über baumlose, mit Geröll übersäte Talterrassen. Dort hat sich der Chon-Kemin tief eingeschnitten, gespeist von Zuflüssen, die den Weidegründen ihre Namen geben. „Jailoo Dschindi-Su“ heißt „verrücktes Wasser“. Man kann den Fluss kaum überqueren, nicht zu Fuß, nicht zu Pferd, es gibt nur ein paar ganz wenige seichte Stellen.

Zum Glück ist der Chon-Kemin noch passierbar. Und tatsächlich hat der Tross am nächsten Abend die Sommerweide erreicht. Das Lager wird jenseits der Baumgrenze auf 3.000 Metern Höhe aufgeschlagen, inmitten von Berghängen, die wie mit grünem Samt überzogen wirken. Unterhalb des Steilufers tost der Fluss.

Drei Jurten hat Bachyt mitgebracht: eine, in der gekocht und gegessen wird, eine als Schlafplatz für die Familie und eine Gäste-Jurte. Wie die Jurten aufgestellt werden, haben die Kirgisen schon als Kinder gelernt. Zuerst stehen die „Wände“, ein faltbares Holzgitter. Dann hält einer den Tündük, den Rauchabzug für das Dach, mit einer langen Holzstange in die Höhe. Die anderen fügen nun mehrere Dutzend „Dachsparren“, gebogene Holzlatten, ein. Das eine Ende wird in kleine Löcher am Tündük eingepasst, das andere am Holzgitter befestigt. Wenn das Gerippe der Jurte steht, wird es mit großen Filzbahnen umspannt.

Gute Jurten sind teuer

Obwohl Jurten die praktischste Behausung sind, weil man sie schnell auf- und abbauen kann, wohnen viele Hirten in alten Bahnwaggons oder Containern. „Früher gab es viele Jurten,“ erklärt Talant, Bachyts Bruder, der beim Almauftrieb geholfen hat, „aber jetzt werden kaum noch welche hergestellt, und wenn, sind sie teuer.“ 15.000 Dollar koste eine gute Jurte heutzutage und junge Leute wollten das Handwerk nicht mehr lernen. „Aber das Gefühl, in einer Jurte zu schlafen, ist einmalig,“ schwärmt Talant. „Nachts sieht man durch den Rauchabzug die Sterne am Himmel und frühmorgens die Sonne.“

Doch die Nomadenromantik hinterlässt ihre Spuren. Bachyts Frau Ainura sieht zehn Jahre älter aus, als sie wirklich ist. „Ich möchte manchmal einfach nur ausruhen, ganz weit weg,“ sagt sie. „Jeden Tag mache ich Teig, jeden Tag Brot, jeden Tag sind die Kühe zu melken.“ Auf ihr lastet ein Großteil der Verantwortung für das Jurtenlager, sie bewirtet die Gäste, ist von früh bis spät auf den Beinen. Dort oben muss sie auch die Stuten melken, um Kumys, das leicht alkoholische kirgisische National-Getränk aus vergorener Stutenmilch, herzustellen.

Vorsichtig tritt Ainura heran und melkt die Stuten nacheinander. Das muss sie jetzt alle zwei Stunden tun. Etwa fünf Liter Milch gibt jede Stute pro Tag. Für die Fohlen reicht die Milch trotzdem noch. Eine Flasche fertiger Kumys, den sich Bachyt unterwegs von einem Nachbarn mitgenommen hat, dient als Basis für den eigenen Kumys. Wie bei Sauerteig bringen Hefekulturen die Milch zum Gären. Den Kumys und die frische, leicht süßlich schmeckende Stutenmilch mischt Bachyt in einem ausgeräucherten Birkenfass und hält sie mit einem großen Quirl ständig in Bewegung. Zwei bis drei Stunden nach dem Melken ist aus der Pferdemilch Kumys geworden.

Der Beginn der Kumys-Saison ist für die Hirten ein Grund zum Feiern – und der Anlass, ein Schaf zu schlachten. Zum Schächten des Schafes findet sich die gesamte Familie ein. Die gläubigen Muslime bitten um den Segen Allahs, um Frieden, Gesundheit und Zusammenhalt in der Familie. Dort, fern der Zivilisation, scheint das noch wichtiger als anderswo.

Von Edda Schlager

03/07/09

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