„Gut“, „kaputt“ und „heil“ waren die einzigen Wörter, die Tzveta Sofronieva kannte, als sie mit 28 Jahren nach Deutschland kam. Ihre Heimat Bulgarien hatte sie bereits 1989 verlassen, hinter ihr lagen Aufenthalte in Amerika, Kanada und Großbritannien. Heute lebt die Chamisso-Preisträgerin mit ihrer Familie in Berlin, schreibt Gedichte, Erzählungen und Essays überwiegend in Deutsch. Davon, wie die einst fremde Sprache zu einer ihrer Heimaten wurde, handelt der Text „Andere Worte“, den Tzveta Sofronieva Ende Oktober bei einer Lesereise durch Kasachstan vortrug. Die Autorin stellte der DAZ eine Kurzversion für die Veröffentlichung zur Verfügung.

/Bild: Antonie Rietzschel . ‚In Almaty las die Autorin Auszüge aus ihrem Text „Andere (W)orte”. ‚/

„Im Dunkeln frage ich mich oft ob du fühlst wie die Worte leuchten und ihre Seelen ausgebreitet siehst“, schrieb ich 1991 in einem Gedicht über die Sprache, und weiter: „auf den Inseln meiner Seele spielen martern mich die Schatten der Worte die Seelen meiner Sprache unübersetzbar in Verse oder in die Sprache deines Landes“. Das Gedicht hieß ursprünglich „родина”, „Heimat“ und dieser Titel war in mehreren Sprachen nichts Problematisches. Auf Deutsch durfte es nicht so heißen, der neue Titel „Gefangen im Licht“ kam als der Natürlichere – ich fühlte mich gefangen im Licht der Sprache. Mehr als eine Sprache sagen kann, kann man in der Heimat dieser Sprache nicht sagen, solange man sie nicht erweitert.

Als ich vor fünfzehn Jahren nach Deutschland kam – im Übrigen aus Amerika, nicht aus Bulgarien –, kannte ich vier Wörter: „gut“, „kaputt“, „heil“ (von „Heil Hitler!“) aus russischen Kriegsfilmen und „das Sein“, wegen Kant. Spielerisch lernte ich deutsch, wie ein Kind – ich beabsichtigte nicht, im Deutschen zu bleiben, wie Kinder nichts beabsichtigen. Ich war mit viel Leichtigkeit, mit genauem Benennen und mit vielen Grenzen konfrontiert. Langsam ertastete ich die Hügel und Täler der Sprache, die Abgründe ihrer Meere, roch ihre Blüten und genoss die Kühle ihrer Quellen. Spielen, krabbeln, probieren, fallen, weinen, aufstehen, wandern, durchlaufen, überspringen, greifen, aneignen, erobern, misslingen, verlassen, enttäuscht sein, neu anfangen, lieb gewinnen, sich geborgen fühlen, laufen, umknicken, schwimmen, neue Ufer erreichen, Sandburgen bauen, Teig kneten, formen, backen, den Geruch des Brotes durch die Fenster strömen lassen, einen Kaffee dazu kochen. So wurde Deutsch eine meiner Heimaten – wegen des Lernens über Leichtigkeit, Benennen und Grenzen, wegen des Wanderns. Andere Leichtigkeit, neues Benennen, andere Genauigkeit, neue Irrtümer und andere Entdeckungen beim Wandern, neue Grenzen.

Die Seelen, die Seen (denn „Seele“ hat auf Deutsch ihren Ursprung im „See“) meiner ersten Sprache, in der ich geboren bin und schwimme, ohne nachzudenken – auch dort passe ich auf, bleibe wachsam, beobachte die Veränderungen der Riffe, erkunde die Tiefen neu, viele dieser Seen kenne ich selbst nur wenig, habe nur davon gehört oder geträumt. Aber an die meisten erinnere ich mich an ihre Laune, an die üblichen Winde und die Farbenspiele mit Sonne und Mond. Die Lichtspiegelungen der Seen sind unübersetzbar, die ungeteilten Erfahrungen, das andere physiologische Empfinden über See(len)wellen. Denn in jedem See hausen alte Sagen, Mythen, Geschichten der vor mir an diesem Ort Gestorbenen. Kenne ich sie, wenn ich dich kenne? Kennst du sie, wenn du mich kennst? Nur eine leise Erinnerung an vergangene Zukunftsentwürfe. Verse und Sprachen der Abstammung, der Herkunft, der Familie – wir haben sie immer in Fülle, diese Zungen der Seenbewohner unserer Sprache, die zu uns flüstern. Sind sie nicht Schatten oder blendendes Licht zwischen uns, wenn wir kommunizieren wollen?

Dass das Wort „бог“ (Gott), in der Übersetzung nicht geändert wurde, wäre schlecht, meinten die Kollegen, dieses Wort mache so alles kaputt, zerreiße die anderen Metaphern, weil es auf Deutsch mit Religion und Kirche verbunden ist. Wofür stand das Wort „Gott“, bevor ich Deutsch konnte? Der schmale Grad des freien Willens, die Suche, sich mit dem abzufinden und etwas daraus zu machen, die Überwindung der Einsamkeit, ein Freund von Einstein und Newton, von meinen Physikprofessoren an der Universität (denn niemand, der sehr viel über Natur und Mensch weiß, zweifelt am Unerklärlichen). Damals studierte ich Naturwissenschaften statt ideologisch geprägte Literatur; der berühmte Witz meines Studiums: „Ein Engel rennt zu Gott: „Herr, die Menschen haben den nächsten Teil der Weltformel entschlüsselt!“ „Na, dann wirf ihnen doch noch ein paar Differentiale runter“. So war es mit Gott ein Ziel auf der Suche nach Erkenntnis, ein Wettbewerb mit uns selber, um Dinge zu benennen. Es ging nicht um Glauben, sondern darum, Worte für das (noch oder immer) Unerklärliche in der Welt und in uns zu finden. Die Sprache zu erweitern.

In der Sprache, in der ich aufgewachsen bin, hatten Wörter, die mit Geschichte, Glaube oder Ursprung verbunden waren, am meisten mit der Sprache und der Schrift zu tun. Das kyrillische Alphabet wurde 855 geschaffen, um das Christentum von Konstantinopel nach Bulgarien und weiter unter den Slawen zu verbreiten. Gott wurde erst recht Sprache und Identität unter der fünf Jahrhunderte währenden Herrschaft der Türken über die Bulgaren. Ich muss bei dem Wort auch an den Heiligen Abend, der bei uns „Бъдни вечер“ („Abend der Wachsamkeit, des Werdens, des Seins“) heißt, in der Zeit des realen Sozialismus (oder sollen wir es bei Kommunismus als Wort belassen) denken. Es war verboten, ihn zu feiern, und es kam einer Odyssee gleich, wenn jedes Mitglied unserer Familie zu meiner Großmutter zu finden suchte – unterschiedliche Wege und Zeiten, unauffällig. Meine Eltern und Tanten, Religion völlig ablehnende Menschen, die auch in ihren Berufen aufklärend dagegen wirkten, mein Großvater, der den christlichen Gott als Vorstellung albern fand und gerne griechische Sagen und Götter zitierte, wir Kinder, die Gott als Geschichte von der Schule kannten, ihn sehr marxistisch als historische Rolle erklärt bekommen und an der grausamen Bibel nicht einmal als Märchen Interesse hatten, alle saßen am Tisch. Großmutter trug Gott in irgendeiner Weise in sich, die Tradition, den Frieden, die innere Ruhe, die Zukunft. Gott war niemals Religion, niemals Kirche, kein Machtmechanismus der Starken, eher ein Bewahrungsmechanismus der Schwachen. Das Stadtzentrum von Sofia befindet sich in einem Viereck, gezeichnet von einer christlich-orthodoxen Kathedrale, einer katholischen Kirche, einer Synagoge und einer Moschee. So sehen die neuen Peripherien Europas aus. Und da sich das Schicksal Europas zum großen Teil dort entscheidet, ist das Wort „Gott“ wichtig. Ich benutze es im Gedicht wahrscheinlich als die erste Zelle der Sprache in mir.

Sprache hat viel mit Grenzen zu tun. Sprachen haben auch eine besondere Eigenschaft: einerseits kennen sie keine Grenzen, sind grenzenlos, sowohl in der Suche nach Benennung, als auch, weil sie fließend ineinander übergehen; anderseits können sie gerade Grenzen setzen, schaffen. Die Sprache ist einerseits Identität, anderseits – und gerade deswegen, kann sie gegen ein interkulturelles Miteinander instrumentalisiert werden. Ich bin von meinem Zuhause und meiner Sprache bewusst und mir meiner sicher fortgegangen. Wie Max Frisch 1974 in seiner Rede zur Verleihung des Schillerpreises „Heimat“ als den Unterschied zwischen dem Hauptbahnhof der Stadt, in der er geboren wurde und allen anderen Bahnhöfen der Welt nennt: „Hier kam man nicht zum ersten Mal an, hier fuhr man zum ersten Mal weg.“ Zum ersten Mal weggehen, Aufbrechen, ich wollte in mir selbst zu Hause sein. Ganz treu dem Gedanken Wim Wenders, den ich später erfuhr und liebte: „nicht zu Hause zu sein bedeutet, mehr zu Hause zu sein als irgendwo sonst. … Identität heißt, dass man keine Heimat braucht“, dass man Bewusstsein für alles haben kann.

Heute redet man in Deutschland über notwendiges Pathos, über Tabus und Geschichte in literarischen Zeitschriften, das Berliner Künstlerprogramm des DAAD hat als Motto für eine ganze Reihe Literaturlesungen einen Satz von Karl Wilhelm von Humboldt „Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache“.

Das Wortumgehen in einem Gedicht über die Sprache hat mich sehr sensibilisiert, über unseren Umgang mit der Sprache, über alten Missbrauch neue Tabus und die unterschiedlichen Sprachtraditionen, darüber, wie man sprachliche Grenzen anders definiert, setzt und erlebt und wie sich die Sprache dabei verändert. Ich denke, wenn man Worte meidet, meidet man das Kranke in ihnen, verurteilt man ihre Bedeutung endgültig, und etwas läuft falsch. Kommunikationsverbote lehne ich grundsätzlich ab. Missbrauchte Wörter interessieren mich literarisch sehr. Denn nicht nur Heimat, Gott, Blut, Heilig waren problematisch, Seele und sogar ein Wort wie Großmutter stießen auf Skepsis und Ablehnung, Trost, Sehnsucht, Erwachen, Begabung klangen suspekt. Worte, deren Übersetzung aus dem Englischen oder Spanischen ins Deutsche oft larmoyant, und aus den osteuropäischen Sprachen pathetisch klingt. Sie waren nicht nur durch die Nazi-Zeit belastet, sondern auch durch die Ideologisierung des politischen Lebens in den späteren 60er Jahren und des folgenden „anything goes” der 80er Jahre. Dass man bestimmte Wörter hier nicht benutzen wollte, dass es Worte gibt, die in der deutschen Literatur schwer vorstellbar, „verboten“ waren oder weiter sind, hat mich dazu gebracht, auch über die Belastungen der Worte im Bulgarischen und in anderen Sprachen nachzudenken. Ich nahm intensiver wahr, wie allergisch ich reagierte, wenn man im Bulgarischen бъдеще (Zukunft) sagte. Ob ich mit dem Wort, das ich unumgehbar mit der hellen Zukunft des Kommunismus verbinde und das mich immer wieder in Depressionen zu stürzen vermochte, je versöhnt werde? Und wie sehr mich избор (Wahl), свободно (frei), работа (Arbeit), пламък (Flame), сoтрудничество (Zusammenarbeit), сигурност (Sicherheit, es klingt immer nach Staatssicherheit wie Stasi) stören. Die Zeit unter einem totalitären Regime hat ihre Spuren auch in der Sprache meiner Kindheit hinterlassen.

Was passiert mit den Schatten der Worte, mit deren Erinnerungsspuren? Wie entstehen die neuen Narben auf ihnen? Durch Homeland Security und den IrakKrieg bekam home, home, sweet home sicher eine andere Farbe, Terrorist bekam ein Gewicht, das kaum auszuhalten ist. Gleichzeitig wurde das Wort Heimat auf einmal sehr populär in Deutschland.

Der Sprachgebrauch wird gegenwärtig auch durch die Auseinandersetzung über „political correctness“ geprägt. Sie entstand aus dem Wunsch nach Gleichberechtigung verschiedener Standpunkte und dem Wunsch, der Benachteiligung von Menschen durch den Sprachgebrauch etwas entgegenzusetzen. Aber wird sie auch selbst nicht missbraucht? Ist es wirklich richtiger interracial zu sagen als Mullato? Und was für eine politisch korrekte Handlung ist es, gegenwärtige Romane von interracial authors als Afro-American Literature in einem Buchladen einzuordnen statt in der Abteilung Fiction? Bin ich innerracial, weil meine Eltern der gleichen Rasse gehören? Ist ein Kokusaijidô (aus dem Japanischen: internationales Kind) kein Ainoko (Mischlingskind zwischen einer Japanerin und einem Nicht-Japaner) mehr? Ist mein Kind, das in einer internationalen Beziehung zwischen einem Deutschen und einer Bulgarin geboren ist, ein Kokusaijidô oder nicht?

Worte werden im Prozess der sprachlichen Bearbeitung von Erfahrungen unweigerlich spezifisch aufgeladen. Interessant sind dabei die unterschiedliche kulturelle Aufgeladenheit der Worte, ihre Veränderung, ihr Missbrauch und der Missbrauch dieses Missbrauchs, die Gründe des Wortumgehens oder des ungewollten Schweigens. Denn welche Worte wir benutzen oder nicht benutzen, welche Zwischenräume wir benennen oder nicht benennen, welche Grenzen wir setzen oder freigeben – dies hat mit unserer eigenen Geschichte zu tun und nicht zwangsläufig mit der Geschichte der anderen. In unterschiedlichen Kontexten wird oft Unterschiedliches unausgesprochen als gemeinsam vorausgesetzt. Das kann in einer interkulturellen Kommunikation nicht selten zu latenten Missverständnissen, zu krassem Unverständnis oder zu scheinbarem Einvernehmen führen. Die Ursache dafür offenbart sich uns zumeist nicht, denn wichtige Hintergründe werden im Dialog entweder überhaupt nicht benannt, als bekannt unterstellt oder selbst gar nicht wahrgenommen. Interessiert hat mich gerade das Kulturspezifische, wann in einer Sprache Grenzen gesetzt oder freigegeben werden. Und: Was passiert beim Zusammentreffen sprachlicher Bilder, wenn Europa zusammenwächst? Nicht zuletzt in der Mehrsprachigkeit?

So fing ich an, immer intensiver, meinen deutschen Kollegen Fragen zu stellen und meine Sprache(n) in Frage zu stellen. Eine Diskussion um „Verbotene Worte“ entstand. Nicht wegen des Interesses an einzelnen Wörtern, denn wir teilen die Skepsis gegenüber vielen Begriffen und wollen keine Worte „heilen“ oder „freilassen“. Es geht um die gemeinsame Entmythologisierung der Geschichte, wenn Vergangenheit zu Geschichten, zu Literatur wird. Es geht um die Aufmerksamkeit, wie Sprache instrumentalisiert wird und von wem, und wie Literatur damit umgeht. Dabei sind gerade die nicht-geteilten Erfahrungen mit Wörtern interessant, mit ihren Veränderungen – beispielweise auch durch die Begegnungen verschiedener Sprachen. Denn erst im Kontrast der Kulturen werden die Erinnerungsspuren der Wörter erkennbar, werden Belastungen und Tabus auffällig. Sie sind immer eine Herausforderung: Sollen sie als Grenze bewahrt oder innovativ gebrochen werden? Literarisch noch interessanter ist das kulturbedingte Schweigen. Spannend das schwer messbare und zu fixierende Fein-Gewebte, das Ungeteilte, das wir und unser Gegenüber unbewusst in ein Gespräch hineintragen.

Begegnungen und Abschiede von Wörtern diese Beschreibung kommt mir am nahsten, wenn ich an das Bewohnen neuer Orte denke. Immer mehr genieße ich die Möglichkeit, in unterschiedlichen Sprachen zu schreiben, ich genieße die Unruhen der Sprachen, wenn Worte verabschiedet oder neu gefunden werden. Meine Neugier auf neue Worte wächst. Denn mit den Worten jenseits der Sprachen könnten wir uns vielleicht begegnen.

Mehr über Tzveta Sofronieva und ihre Projekte erfahren Sie hier:
www.tzveta-sofronieva.de
www.kakanien.ac.at/beitr/verb_worte

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