Über Atomwaffen wird zurzeit in der internationalen Politik hitzköpfig diskutiert. Über nukleare Abrüstung spärlich. Ein Blick gen Zentralasien könnte lohnen. Die desaströsen Folgen des Nuklearzeitalters im eigenen Land spürend, entsagte Kasachstan am Ende des Kalten Krieges seinen Atomwaffen.

Atomare Abschreckung ist wieder salonfähig auf der internationalen Bühne. Bestrebungen zur nuklearen Abrüstung scheinen in Vergessenheit geraten zu sein. Der französische Präsident sprach kürzlich über neue Ziele für die Abschreckungs- und Massenvernichtungswaffen des eigentlich vergangenen Kalten Krieges, Iran übt sich in Drohgebärden. Bald könnte ihr Einsatz auch offensiver Natur sein, so Jacques Chirac beim Truppenbesuch seiner Atom-U-Boote in der Bretagne. Dort begründete er Frankreichs Nuklearwaffenarsenal, derzeit das viertgrößte der Welt, mit der latenten Gefahr durch den internationalen Terrorismus und vermeintliche Terrorstaaten. Chirac legitimierte so Milliardenbeträge, die die stolze „Grande Nation“ pro Jahr für seine Atomstreitmacht ausgibt. Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Rupert Scholz äußerte jüngst, dass über eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr nachzudenken sei. „Im Lichte der Gefahr, dass nukleare Massenvernichtungswaffen auch in die Hände von Terroristen geraten könnten, müssen wir diese Frage ernsthaft diskutieren”, so Scholz. Die Worte des Verteidigungsministers außer Dienst scheinen weltentrückt. Die Bundesrepublik hat prinzipiell auf Atomwaffen verzichtet und dies im Zwei-plus-vier-Vertrag bekräftigt. „Das muss auch ein früherer Verteidigungsminister wissen”, so der FDP-Außenpolitiker Werner Hoyer.

Kasachstans Nein zu Atomwaffen

Das ambitionierte Atomprogramm des Irans, in dem zivile und militärische Nutzung eng verflochten scheinen, heizt weltweit die Debatte über Sinn und Zweck von Atomwaffen an. Die internationale Politik scheint nukleare Aufrüstung wieder als Mittel zur Fortsetzung der Politik wahrzunehmen. Ein Blick gen Zentralasien würde zeigen, dass auch der umgekehrte Weg gangbar ist. Kasachstan hat nach dem Ende des Kalten Krieges gegen eine eigene atomare Bewaffnung optiert. Obwohl das Potenzial vorhanden gewesen wäre.
Das neue, unabhängige Kasachstan trat 1991 ein schweres atomares Sowjeterbe an: Die kasachische Steppe war das größte Atombombentestgebiet der Welt, und zugleich fiel dem frisch ausgerufenen Staat mit über 1000 Sprengköpfen das weltweit viertgrößte Arsenal taktischer und strategischer Atomwaffen zu. Mit amerikanischer Hilfe wurden die atomaren Sprengköpfe und Trägersysteme zurückgebaut. Etwa 600 Kilo hoch angereichertes, waffenfähiges Uran wurde 1994 an die USA ausgeliefert. Im gleichen Jahr erklärte sich Kasachstan zum atomwaffenfreien Staat und unterzeichnete den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Zwei Jahre später trat das zentralasiatische Land dem internationalen Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen bei. Bereits zur Staatsgründung hatte Präsident Nursultan Nasarbajew 1991 offiziell die Schließung des Polygon, des Atomtestgeländes bei Semipalatinsk, dem heutigen Semej, verkündet. Fast 500 Atombomben wurden hier in 40 Jahren gezündet. Die Krebsrate ist dort noch heute dreimal höher als im Landesschnitt. In Polygon-Nähe kommen viele Kinder mit Behinderungen zur Welt. Das atomare Erbe wird durch Genom- und Chromosomenmutationen noch Generationen nachwirken. Ein Problem, das mittlerweile auch Deutschland erreicht hat: In Aussiedlerfamilien aus Nordkasachstan und Südsibirien ist die Krebsrate auffällig hoch.

Stolz und Anerkennung

Die Kasachen und ihr Präsident Nursultan Nasarbajew sind stolz auf die Abrüstungsinitiative ihres jungen Staates. Sie wird heute in Semipalatinsk als Leistung des Präsidenten beworben und von internationalen Persönlichkeiten wie Bill Clinton oder dem Schriftsteller Paulo Coelho honoriert. Dabei kam die Motivation einst nicht aus völlig freien Stücken. Denn der kasachische Staat war Anfang der 1990er äußerst knapp bei Kasse und mit dem kasachischen Schriftsteller Olschas Sulejmenow entstand Ende der 1980er eine breite Opposition gegen Atomtests und atomare Bewaffnung. Die Initiative mündete in der Newada-Semipalatinsk-Bewegung. Die Sulejmenow-Anhänger sammelten eine Million Unterschriften und wurden zur politischen Kraft. Die Stimmung machte sich Nasarbajew zunutze und schwang sich sowohl im Lande als auch auf internationaler Bühne zum Atomwaffengegner auf. Die diplomatische Vertretung Kasachstans in Washington schreibt nicht ohne Pathos: „In einer Zeit, in der andere Länder nicht der Versuchung widerstehen können, sich als Atommächte zu positionieren, ist Kasachstan ein Musterbeispiel der Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Stabilität.”

Georges Le Guelte vom Pariser Institut für internationale Beziehungen und strategische Studien (IRIS) formulierte in der renommierten französischen Monatszeitung für internationale Politik „Le Monde diplomatique” treffend: „Je mehr Länder Nuklearwaffen besitzen, desto größer ist die Gefahr, dass sie nicht der Abschreckung, sondern der Vernichtung dienen, desto wahrscheinlicher ein irrtümlich ausgelöster Atomkrieg, desto größer die Versuchung präventiver Angriffe, desto höher das Risiko, dass spaltbares Material in die Hände krimineller Vereinigungen fällt.” Dass nukleare Abrüstung und der Verzicht auf Atomwaffen möglich ist, zeigt ein Blick nach Zentralasien: Kasachstan, dass Anfang der 1990er die viertgrößte Atommacht war, könnte als Beispiel für eine einseitige Abrüstung im Eigeninteresse dienen; ob für den Iran, den Präsidenten der heute viertgrößten Atommacht Frankreich, oder anderswo. Die zivile Nutzung der Kernenergie ist freilich ein ganz anderes Thema – auch im heutigen Kasachstan.

Von Gunter Deuber

03/02/06

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