Vor 200 Jahren wanderten die ersten Deutschen in den Südkaukasus aus. Heute sind kaum noch Spuren von ihnen zu finden. Sie wurden unter Stalin nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Deutschland richtet aus diesem Anlass verschiedene Veranstaltung aus. 2017 ist zudem das Deutsch-Georgische Freundschaftsjahr. Peter Leis aus Mannheim ist auf der Suche nach den eigenen Wurzeln nach Georgien und Aserbaidschan gereist.

Väterlicherseits stamme ich aus einer wolgadeutschen Familie, die aufgrund ihres starken politischen Engagements und ihres Kampfes für die Ausreise bereits 1975 die Sowjetunion verlassen konnte.

Meine Familie mütterlicherseits stammt aus dem Südkaukasus und konnte ebenfalls 1975 die Sowjetunion mit Glück und Hartnäckigkeit in Richtung der Urheimat Deutschland verlassen. Dieser Familienzweig stammt mehrheitlich aus der Kolonie Katharinenfeld in Georgien, lediglich ein Urgroßvater stammte aus Helenendorf in Aserbaidschan.

Meine Eltern haben sich dann erst in der Bundesrepublik kennen gelernt, und ich gehöre zur ersten Generation, die seit der Auswanderung aus Württemberg 1817 wieder in Deutschland geboren ist.

„Wir kannten Georgien nur aus Erzählungen“

Peter Leis mit Mutter Elisabeth und Onkel Ralf Reber in der georgischen Weinregion Kachetien. | Foto: Autor

Wenige Monate nach dem Tod meiner geliebten Großmutter Erika (genannt Ruth) Reber bin ich mit meiner Mutter Elisabeth Leis und meinem Onkel Ralf Reber im Juni 2017 in die Heimat unserer Eltern und Großeltern gereist – exakt 200 Jahre nachdem unsere Vorfahren Württemberg verlassen haben.

Wir kannten diese Heimat nur aus Erzählungen, von Fotos und Traditionen, die es mit den ehemaligen Kolonisten von Georgien über Sibirien und Mittelasien bis in meinen Geburtsort Heidelberg zurück nach Süddeutschland geschafft haben.

Rosa, Berta und Helene, drei Schwestern meiner Urgroßmutter Charlotte Wackenhut (geb. Speiser) aus Katharinenfeld, wanderten in den 1930er Jahren nacheinander in das Deutsche Reich aus. Tante Rosa hatte bereits in Katharinenfeld geheiratet. Ihre jüngeren Schwestern Berta und Helene kamen als ledige Frauen nach Deutschland. Die eine wurde Zahnärztin, die andere Hebamme, und beide heirateten einheimische Männer. Sie holten 1970 ihre Schwester Charlotte in die Bundesrepublik Deutschland, die dann fünf Jahre später ihre Tochter mit Ehemann und den Kindern, darunter meine Mutter, nachzog.

Verfolgung der „Kulaks“

Charlotte Speiser wurde am 7. November 1903 in der Kolonie Katharinenfeld geboren. Ihre Vorfahren waren 1817 aus Württemberg ausgezogen, um im fernen Georgien Freiheit, Wohlstand und eine neue Heimat zu suchen und zu finden.

Als die Sowjetunion 1921 Georgien und Aserbaidschan besetzte, war Charlotte Speiser bereits volljährig und Katharinenfeld wurde in Luxemburg umbenannt. Ein Jahr später heiratete die Katharinenfelderin aus gutem Hause meinen Urgroßvater Gottlieb Wackenhut aus der Kolonie Helenendorf.

Meine Großmutter Ruth kam auf die Welt. Sie hatte keine unbeschwerte Kindheit und wurde früh Halbwaise. Der stalinistische Terror der 1930er Jahre erreichte auch ihren Vater Gottlieb. Wie viele andere Deutsche in Kaukasien wurde auch er als „Kulak“ politisch verfolgt.

Neben ihrer meist herausragenden wirtschaftlichen Lage sorgten die Kolonisten schon wegen ihrer gelebten deutschen Herkunft und der Verwurzelung im Protestantismus bei den Bolschewisten für Misstrauen. Bereits 1935 wurden 600 Deutsche aus Aserbaidschan nach Karelien deportiert. Im georgischen Luxemburg/Katharinenfeld wurden 352 Einwohner verhaftet, verschleppt oder ermordet. Unter den Opfern war auch mein Urgroßvater Gottlieb Wackenhut. Meine Urgroßmutter Charlotte blieb bis zum Ende ihres langen Lebens im Jahr 2000 Witwe.

Vom Kaukasien nach Sibirien und Kasachstan

Dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion folgte die Deportation von 45.000 Deutschen aus dem Südkaukasus zwischen dem 15. Oktober und 12. November 1941. Dies bedeutete die völlige Vernichtung der Existenzgrundlage aller Deutschen in Georgien und Aserbaidschan nach über 120 Jahren Siedlungsgeschichte. Ihre Häuser wurden an Zugewanderte und Zwangsangesiedelte aus umliegenden Regionen vergeben und ihre Friedhöfe zerstört. Mit der Verschleppung nach Sibirien und Kasachstan zur Zwangsarbeit wurden sie kollektiv zu entrechteten Bürgern zweiter Klasse.

Auch nach der Aufhebung der so genannten Sondersiedlungen 1955 waren die ehemaligen deutschen Kolonisten und ihre in der Verbannung geborenen Kinder gesellschaftlicher Diskriminierung und staatlicher Russifizierungspolitik ausgesetzt.

Nach Stationen in Solikamsk, Beresniki, Perm und Taschkent mit Tochter Ruth, Schwiegersohn Arnold und mittlerweile vier Enkelkindern konnte meine Urgroßmutter Charlotte 1970 als Rentnerin zwecks Familienzusammenführung zu ihren Schwestern in die Bundesrepublik ausreisen. Sie zog den Rest der Familie Reber mit den drei jüngsten Kindern im Alter zwischen 25 und 29 Jahre aus Usbekistan im Jahr 1975 nach – zuerst nach Friedland, dann nach Heidelberg.

Auf Spurensuche in Georgien und Aserbaidschan

Wie schon unsere ausgewanderten Vorfahren vor 200 Jahren starteten meine Mutter, mein Onkel und ich die Reise nach Kaukasien ebenfalls in Württemberg. Doch benötigten wir für die 4.000 Kilometer keine anderthalb Jahre auf Booten, Schiffen und Pferdewagen, sondern mit dem Flugzeug von Stuttgart nach Tbilisi lediglich etwas mehr als vier Stunden. Die folgende Reiseroute wurde von mir grob entworfen und von dem in Tbilisi ansässigen deutschen Unternehmen Kaukasus-Reisen (www.kaukasus-reisen.de) organisiert und umgesetzt.

Nach Stationen in der georgischen Hauptstadt Tbilisi, der Weinregion Kachetien und der 3.000 Jahre alten Stadt Mzcheta besuchten wir auch das ehemalige Helenendorf, das heutige Göygöl in Aserbaidschan. Neben der beeindruckenden Natur und der leider künstlichen Anmutung der rücksichtslos sanierten deutschen Wohnhäuser fällt sofort die 1857 fertiggestellte St. Johanniskirche in der Stadtmitte auf. Die Kirche war das erste protestantische Gotteshaus in Aserbaidschan, heute ist sie ein Museum.

Katharinenfeld heißt nun Bolnisi

Das ehemalige Katharinenfeld, das 60 km südwestlich von Tbilisi gelegene Bolnisi, war das wohl emotionalste Ziel auf unserer Reise. Vom früheren Glanz Katharinenfelds, das seinerzeit drei Mühlen hatte, ist wenig übriggeblieben. Mit einer großen Ausnahme: Auf den Grundmauern der früheren Kötzle-Mühle hat der deutsche Unternehmer Achim Depta in den Jahren 2010 bis 2013 in traditioneller Stein– und Holzbauweise das Hotel und Restaurant „Deutsche Mühle Bolnisi“ erbaut. Das Hotel entspricht allerhöchsten touristischen Standards, und das liebevoll gestaltete Gebäude lässt erahnen, wie die deutschen Häuser nach der im kommenden Jahr geplanten Kernsanierung von Bolnisi aussehen könnten.

Angrenzend an das Hotel am Gebirgsfluss Muschawer, beginnt der alte deutsche Stadtkern. Das mittlerweile unbewohnte Haus der wohlhabenden Familie Speiser in der einstmals prächtigen Gartenstraße, das Geburtshaus von Urgroßmutter Charlotte, steht noch. Auch meine in Georgsfeld, Aserbaidschan, geborene Großmutter Ruth hat hier viele Jahre gelebt.

In der Parallelstraße begegnet uns im Hof eines alten deutschen Hauses die 89-jährige Armenierin Tamara Ulijanova. Nachdem sie erfahren hat, wer wir sind, beginnt sie schwäbisch zu sprechen, fast genauso, wie auch meine Großeltern gesprochen haben. Aus Erzählungen weiß ich, dass viele Armenier in Katharinenfeld lebten und den Dialekt der Kolonisten sprachen.

Dann geht es von der Nikolaistraße weiter in die Kirchenstraße. Der Kirchturm mit Glocke wurde von den Sowjets Jahrzehnte zuvor gesprengt und abgerissen. Das Kirchenschiff beherbergt heute verschiedene Sportklubs. Ich sehe bereits vom Kirchplatz aus das Elternhaus meines Großvaters Arnold Reber, ebenfalls unbewohnt und in katastrophalem Zustand.

Nach einem kurzen Besuch der Ruine gehen wir die Kirchenstraße weiter entlang zum Denkmal für die Toten der deutschen Kolonisten. Dort, wo heute das Denkmal steht, war einst der deutsche Friedhof. Weiter in Richtung Norden besuchen wir noch den Roten Felsen, einst ein beliebtes Ausflugsziel und bekannt für sein Echo. Wir verabschieden uns mit einem letzten Rufen des Namens unseres Großvaters.

„Georgien steckt noch in uns“

Meine Mutter, mein Onkel und ich fühlten uns bereits am ersten Tag in Georgien sehr wohl – und in gewisser Weise auch zu Hause. Als nach dem Krieg geborene Nachkommen kannten wir alle die Heimat unserer kaukasiendeutschen Vorfahren bis 2017 nur aus Erzählungen. Die abwechslungsreiche und feine georgische Küche, die fantastischen georgischen Weine und die besondere georgische Mentalität glaubten wir bereits zu kennen. Dennoch (oder gerade deshalb?) waren wir von der herzlichen Gastfreundlichkeit und der gelebten Nächstenliebe der Menschen sowie von vielen kulinarischen Höhepunkten überwältigt.

Ich bin mit einer starken Fixierung auf die Vergangenheit nach Georgien gekommen und mit einer großen Sympathie für die Gegenwart des Landes und die Kultur seiner Menschen gegangen. Es ist nicht schwer zu verstehen, weshalb meine Groß– und Urgroßeltern ihre verlorene Heimat so sehr liebten, nie vergessen haben und welche Elemente dieser Heimat auch heute noch in uns Nachkommen stecken.

Peter Leis

Der Artikel erschien zuerst in der Verbandszeitschrift der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. „Volk auf dem Weg“, Ausgabe 10/2017.

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