Früher habe ich immer die Leute belächelt, die sich mit einem Kissen an ihr Fenster setzen und stundenlang rausschauen. Vorzugsweise ältere Menschen. „Was sehen die denn hier schon?“ dachte ich, „die haben wohl nichts zu tun!“ Und bedauerte sie für ein Leben, das in den vier Wänden viel langweiliger sein musste als in der Vorstadtstraße. Neugierig sind sie, war meine Meinung. Wollen keinen Verkehrsunfall und auch sonst nichts verpassen, um dann beim Tratschen in der ersten Reihe zu stehen.

Es ist schon sehr lange her, dass ich jemanden am Fenster sitzen sah. Vorhin saß ich am Schreibtisch, fand aber durch konzentriertes Sitzen nicht die Lösung für meine Fragen. Wandelte im Haus auf und ab, doch auch zwischen Sofa und Küchentisch waren keine Antworten zu finden. Gelangte irgendwie ans Fenster, blieb dort stehen und schaute raus. Schaute auf die Straße und sah Leuten zu, wie sie langsam und unspektakulär von rechts nach links eilen, humpeln oder schlawenzeln.

Ich schaute in den Himmel und sah den Wolken zu, wie sie von links nach rechts flitzen oder langsam ziehen, sich auflösen, neu formieren. Schaute in die Bäume, auf die Litfasssäule und sah dem Asphalt zu, wie sich darin gar nichts rührt. Und schaute und schaute. Geriet über das Schauen in die Entspannung, ins Sinnieren und verlor mich in Träumen. Während ich nach draußen schaute, fand ich in mein Inneres. Wo ich sie plötzlich fand, die Antworten. Sie waren nämlich gar nicht auf dem Schreibtisch.

Natürlich! Wäre ich eine Antwort, ich würde mich auch nicht an so einem ungemütlichen Ort wie einem Schreibtisch unter Druck setzen lassen, ganz schnell zu kommen und dabei noch ganz furchtbar schlau sein zu müssen. Das wissen ja seit Ewigkeiten die eifrigen Mediteure zu berichten, dass man innehalten, speziell atmen, unbequem sitzen und sitzen und sitzen muss, um den Kopf ganz leer zu kriegen, um dann wer weiß was Tolles zu erfahren. Ist mir selbst nie gelungen, weil ich höchst ungern unbequem sitze und immer angestrengt ins Leere gestarrt und nach was ganz Tollem Ausschau gehalten habe.

Schon eher liegt mir das Jägersitzen auf dem Hochsitz oder das Anglersitzen am See. Stelle ich mir vor. Man ist vermeintlich beschäftigt, und während man sich auf die jeden Augeblick in Erscheinung tretende Beute konzentriert, gerät man wie nebenbei und aus Versehen ins meditative Sinnieren. Und so geht das auch ganz prima beim Fenstergucken im eigenen Heim, stelle ich fest. Einzig taten mir nach einer Weile die Arme ein wenig weh, ein kuscheliges Kissen wäre nicht schlecht, dachte ich. Konnte mich aber nicht lösen, um eines zu holen, weil ich in einer angenehmen Entspannungsstarre gefangen war.

Beim nächsten Mal schleppe ich ein Kissen mit mir herum, um mich dort, wo ich anlande, gemütlich niederlassen zu können. Oder ich lege im vorauseilenden Gehorsam ein Kissen ans Fenster. Der Trick bleibt allerdings, dass man zufällig irgendwo stecken bleibt und es nicht zum Programm macht. Wenn man schnurstracks und mit der strategischen Absicht, entspannt zu sinnieren oder gar zu meditieren, dorthin stakst, klappt das ganz sicher nicht, von wegen Druckaufbau und so. Und wahrscheinlich habe ich nun die Wirkung sowieso schon wegreflektiert.

Wie das wohl die anderen Fenstergucker handhaben? Aufstehen. Frühstücken. Einkaufen. Putzen. Von 10.30 bis 11.30 Uhr Fenstergucken. Mittagessen zubereiten. Mittagessen aufessen. Abwaschen. Mittagsschlaf. Nochmal von 15.00 bis 16.00 Uhr Fenstergucken. Oder anders? Das nächste Mal, wenn ich jemanden beim Fenstergucken erwische, lasse ich mich fachmännisch beraten.

Julia Siebert

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