Anlässlich der denkwürdigen Daten – 100 Jahre Gründung deutscher Autonomie an der Wolga 2018 und 95 Jahre Gründung der ASSR der Wolgadeutschen 2019 – nimmt „Volk auf dem Weg“ in einer Beitragsserie verschiedene Aspekte der wolgadeutschen Kulturgeschichte, insbesondere in den Jahren von 1918 bis 1948, unter die Lupe. Dazu gehören auch Zeitzeugenberichte und themenbezogene Bücher russlanddeutscher Autoren, die bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland oder in anderen Verlagen erschienen sind. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Massive Beeinträchtigungen durch den Bürgerkrieg, die widrigen Witterungsverhältnisse mit Missernten der Jahre 1920/1921 sowie die andauernde Schwächung der deutschen Kolonien durch die rücksichtslose Ablieferungspolitik der Verwaltung der „Arbeitskommune der Deutschen des Wolgagebietes“ – das alles verwandelte das Wolgagebiet ins Epizentrum der katastrophalen Hungersnot 1921-1922. Hinzu kamen Typhus-, Cholera- und Windpocken-Epidemien, die sich unter der geschwächten Bevölkerung rasant ausbreiteten und zahlreiche Todesopfer forderten.

Allein in den Wolgakolonien waren 1921 Zehntausende Menschen verhungert, über 74.000 Wolgadeutsche zogen nach Turkestan, in den Kaukasus, nach Zentralrussland, in die Ukraine, Weißrussland und bis nach Deutschland. Nach amtlichen Angaben verloren die Wolgakolonien durch die Hungersnot und die Auswanderung mehr als 26 Prozent ihrer Bevölkerung.

Ausländische Hungerhilfe für die Wolgadeutschen

Zur Linderung der Notlage ließ die Sow-jetregierung die Tätigkeit ausländischer Hilfsorganisationen zu. Eindringliche Appelle prominenter russischer Persönlichkeiten (etwa des Schriftstellers Maxim Gorki oder des Außenministers Georgi Tschitscherin) an die Weltöffentlichkeit im Sommer 1921 mit der Bitte um sofortige Hilfe und Unterstützung zeigten ihre Wirkung. Zahlreiche internationale Organisationen reagierten auf die Hilferufe.

Die Hungersnot hätte womöglich noch viel mehr Opfer gefordert, hätten nicht Angehörige und Freunde in den USA und in Deutschland mit Spenden und Hilfsaktionen geholfen. In ihrer Not hatten sich viele Wolgadeutsche hilfesuchend an Familienangehörige gewandt, die Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Russischen Reich nach Nordamerika ausgewandert waren. Aufgerüttelt durch die „Hunger-Briefe“ von Freunden und Angehörigen gründeten sie 1921 die „Volga Relief Society“ in Portland/Oregon sowie die „Central States Volga Relief Society“ in Lincoln/Nebraska, die sich ein Jahr später zur „Amerikan Volga Relief Society“ zusammenschlossen und gemeinsam Geld für ihre Landsleute in Russland sammelten.

Einige dieser „Hunger-Briefe“ wurden in der deutschsprachigen Wochenzeitung „Welt-Post“, die von 1916 bis 1970 erschien und von vielen russlanddeutschen Einwanderern in den USA und Kanada gelesen wurde, veröffentlicht.

Spendenaufrufe gab es in Kalifornien, Colorado, Washington, Montana, Dakota, Idaho, Oklahoma und Kansas. Insgesamt wurde mehr als eine Million Dollar an Spenden zusammengetragen und der „American Relief Administration“(ARA) und dem vom bedeutenden Polarforscher Fridtjof Nansen geschaffenen „Kinderhilfswerk“ übergeben. Nansen, ein Humanist und Pazifist, hatte sich im Völkerbund energisch für breite internationale Hilfsaktionen eingesetzt, jedoch die zögerliche Haltung der Regierungen und Monopole erfahren müssen.

Im August 1921 schloss die ARA mit der Sowjetregierung einen Vertrag über Hilfsleistungen. An der Wolga wurden Speisehallen, medizinische Stützpunkte, Kinderheime für Waisen u. a. eingerichtet und mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt – insgesamt ging es um Spenden von etwa 20 Millionen Dollar. Allein in der Arbeitskommune konnten sie schon Ende des Jahres rund 80.000 Kinder ernähren, und bis zum 1. April 1922 erhöhte sich ihre Zahl auf 158.000. In den Sommermonaten übernahmen ARA und das „Kinderhilfswerk“ zeitweilig die Speisung von 181.000 Erwachsenen.

Hilfsappelle erreichten damals auch das Deutsche Reich. Hochrangige sowjetische Vertreter wandten sich an die deutsche Regierung mit der Bitte, vor allem die dringend nötige ärztliche Hilfe zu leisten. So konnte Anfang 1922 u. a. eine medizinische Hilfsexpedition des Deutschen Roten Kreuzes ihre Tätigkeit zur Bekämpfung der Seuchengefahr, vor allem von Cholera, Typhus und Malaria im Wolgagebiet, unter anderem in der Arbeitskommune, aufnehmen. In zahlreichen deutschen Ortschaften entfaltete die Aktionsgemeinschaft „Brüder in Not – Reichssammlung für die hungernden Deutschen“ ihre Aktivitäten.

Auch die nach Deutschland ausgewanderten Russland-/Wolgadeutschen bemühten sich um eine möglichst enge Verbindung zu ihren Landsleuten und verbliebenen Verwandten. So erlaubten die Sowjetbehörden dem „Verein der Wolgadeutschen“ in Berlin, dem unter anderen Pastor Johannes Schleuning und der einstige Unternehmer Friedrich Schmidt angehörten, für die Koordination von Hilfsaktivitäten der Emigrantenorganisationen aus Nordamerika und Deutschland eine Anlaufstelle in Saratow aufzubauen.

Der Verein schaffte es, unterstützt vom Deutschen Roten Kreuz, seit 1922 sieben Hilfstransporte mit Bekleidung, Lebensmitteln und Medikamenten nach Saratow zu schicken. Ein achter Transport war mehr als ein Jahr lang unterwegs und kam im Dezember 1924 an. Die Gelder für die Hilfsgüter wurden durch Spenden wolgadeutscher Auswanderer aufgebracht.

Im Zusammenwirken des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale sowie der Sowjetregierung entstand im August 1921 in Berlin das Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Sowjetrussland. Aus ihm ging wenig später die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) hervor, die Clara Zetkin leitete. Das deutsche Reichskomitee der Arbeiterhilfe für Sowjetrussland sammelte bis 1922 33 Millionen Mark an Sachwerten und sieben Millionen Mark Bargeld.

Im gleichen Zeitraum übersandte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund über acht Millionen Mark an den Internationalen Gewerkschaftsbund für die Hungernden in Sowjetrussland. Bis zum Frühjahr 1922 beteiligte sich die von der II. Internationale initiierte „Proletarische Hilfskampagne“ an den Unterstützungsaktionen. Der erste Dampfer mit Spenden deutscher Werktätiger verließ am 15. Oktober 1921 den Stettiner Hafen, ihm folgten bis 1922 weitere 16. Beträchtlich waren Hilfe und Unterstützung, die das Komitee Künstlerhilfe (Oktober 1921) unter der Leitung des bekannten Regisseurs Erwin Piscator organisierte.

Gründung der ASSR der Wolgadeutschen

Die im März 1921 eingeführte Neue Ökonomische Politik führte marktwirtschaftliche Elemente ein und setzte stabile Ablieferungsnormen für die Bauern fest, die nun, anders als bei den zuvor durchgeführten Requisitionen, über ihre Überschüsse frei verfügen konnten. Auch von der Aufnahme andersethnischer Siedlungen und des zentral liegenden Kreises Pokrowsk in das Autonome Gebiet im Juni 1922 erhofften sich die örtlichen Funktionäre vor allem eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Wolgagebiet.

Neben den innenpolitischen und wirtschaftlichen Kalkülen spielten im Fall der Wolgadeutschen auch außenpolitische Erwägungen eine Rolle. Vor allem ging es um die Vorbildfunktion der nationalen Autonomie.

So stimmte das Politbüro des ZK der kommunistischen Partei im Dezember 1923 nicht zuletzt aus außenpolitischen Erwägungen der Statuserhöhung des Autonomen Gebiets (Aufwertung zu einer Autonomen Republik) zu. Die Autonomie der Wolgadeutschen hatte von Anfang an eine politische Rolle zu spielen. Sie sollte den deutschen und österreichischen Sozialdemokraten den Weg der sozialistischen Umgestaltung zeigen.

Im Januar 1924 wurde das Autonome Gebiet vom 11. Gebietskongress der Räte der Wolgadeutschen (6.-10.01.1924) in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) mit der Hauptstadt Pokrowsk umgewandelt und am 20. Februar 1924 per Dekret des Allrussischen Zentralexekutivkomitees bestätigt. Im Beschluss des 11. Gebietskongresses ist unter anderem nachzulesen:

„Der Kongress macht das kämpfende Proletariat Deutschland auf unsere kleine autonome Einheit aufmerksam und unterstreicht damit noch einmal kräftig den Unterschied zwischen der demokratischen Freiheit Deutschlands, das sowohl von dem eigenen als auch von dem europäischen Kapital niedergedrückt wird, und der [tatsächlichen] Freiheit der Nationalitäten, die in dem Bund der Sozialistischen Sowjetrepubliken vereinigt sind.“

Die Erhebung des Autonomen Gebietes zur Autonomen Republik und die Annahme einer Verfassung am 31. Januar 1926 waren zweifellos wichtige Ereignisse der sowjetischen Nationalitätenpolitik in Bezug auf die deutsche Minderheit im Lande. In den deutschen Kolonien wurde Deutsch wieder Amtssprache und neben Russisch und Ukrainisch auch Amtssprache der Republik. Deutsche Ortsnamen, die 1914 durch andere ersetzt worden waren, wurden wieder amtlich eingeführt.

1931 erfolgte die Umbenennung von Pokrowsk in Engels. Hier waren die deutschen Kulturinstitutionen der Wolgarepublik beheimatet, darunter Hochschulen, Berufsschulen, deutsche Zeitungen und Staatsverlage, das Deutsche Staatstheater (gegr. 1930), das Symphonieorchester der Staatlichen Philharmonie der Wolgadeutschen, das Deutsche Lied- und Tanzensemble (vermutlich nach 1935 gegründet).

Der Staatsverlag der Wolgarepublik verlegte allein in den Jahren 1933 bis 1935 ca. 555 deutsche Titel. Auch wenn ein Teil davon Übersetzungen russischen Propagandamaterials war, entstand doch eine deutschsprachige Literatur, deren Fehlen sich nach 1941 schmerzlich bemerkbar machte.

In der Republik wurden Schulen und Bibliotheken, in Marxstadt, der früheren Katharinenstadt, ein pädagogisches und später ein industrielles Technikum, in Krasny Kut ein landwirtschaftliches und in Balzer ein Textilkundliches Technikum eröffnet. Ende der 1930er Jahre hatte die Republik bereits fünf Hochschulen und elf Fachhochschulen.

Die Erfolge der Landwirtschaft in der Republik waren beachtlich, die wolgadeutschen Bauern lieferten an Lebensmitteln das Mehrfache des landesweit Üblichen ab. Zu den bedeutenden Anbaukulturen gehörten Sommerweizen, Sonnenblumen, Machorka (Tabak), Senf sowie Melonen- und Kürbisbau. Auch bei der Herstellung von Dieselmotoren (Marxstadt), der Milchverarbeitung, Tabakproduktion, Knochenverarbeitung, Fleischproduktion und Sarpinka-Herstellung war das Wolgagebiet führend. Das Fleischkombinat in Engels gehörte z.B. zu den größten in der Sowjetunion.

Die Existenz der Autonomen Republik stärkte zweifellos das Nationalbewusstsein der Wolgadeutschen. Dennoch: Sie konnte die Bevölkerung nicht gegen staatliche Übergriffe schützen, denn die Autonomie beschränkte sich vor allem auf die Selbstverwaltung innerhalb eines totalitären Regimes. In weiteren Folgen kommen verschiedene Aspekte der Entwicklung der ASSRdWD bis zur Auflösung zum Ausdruck.

Zusammenfassung: Nina Paulsen (nach: Texten von Alfred Eisfeld, Viktor Krieger, Harry Richter, Johannes Schleuning, Peter Sinner; ORNIS-Press).

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