Astrid Siegmund aus Werder an der Havel über ihre ganz persönlichen Erinnerungen zum Mauerfall, dem Vorboten der Wiedervereinigung. Ein zeitloser und eingängiger Kommentar, mit gegenwärtiger Signalkraft.

Angebahnt hatte es sich schon lange. Seit Monaten verließen DDR-Bürger ihre Heimat über Ungarn gen Westen. Montag für Montag fanden friedliche Demonstrationen statt. Zunächst waren es einige Wenige, die den Mut hatten, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Woche für Woche wurden es mehr und bald waren es Tausende in fast allen größeren Städten. Diese Menschen wollten nicht „abhauen“, sie wollten bleiben und in ihrer Heimat ein freieres Deutschland schaffen. Trotz dieser Vorzeichen saß ich – wie tausende meiner Landsleute – am Abend des 9. November 1989 fassungslos vor dem Fernseher und konnte nicht glauben, was ich sah. Spazierten da wirklich DDR-Bürger unbehelligt durch die immer so scharf gesicherte Grenze nach West-Berlin? Waren es wirklich Trabis, die unkontrolliert den Ost-Teil der Stadt verließen? Zu gerne wäre ich dabei gewesen, einfach nur mal gucken. Aber nebenan im Kinderzimmer schlief mein kleiner Sohn friedlich in seinem Bett, und ich wollte ihn auf keinen Fall alleine lassen. Am nächsten Tag hatte sich die Welt verändert. Schon im Bus, mit dem ich täglich zu meiner Arbeit nach Potsdam in die Staatsbank fuhr, drehten sich alle Gespräche nur um EIN Thema. „Warst du heute Nacht auch drüben?“ Vor der Staatsbank drängten sich Menschenmassen. Jeder DDR-Bürger. Der – nun völlig problemlos – ein Visum für Westberlin und die BRD hatte, konnte sich eins zu eins 15,– Ost Mark in DM tauschen. Natürlich wollte niemand darauf verzichten. Wir Staatsbank-Mitarbeiter wurden von diesem Ansturm völlig überrumpelt. Die Kunden drängten sich an den drei Kassen, schoben und drängelten sich in den Kundenraum, standen in Dreierreihen auf der breiten Steintreppe, versperrten die Straße … Es war unvorstellbar. Wie sollten wir dieser Menschenmassen Herr werden? Die DM-Bestände gingen zur Neige, die Ost-Mark-Berge häuften sich. An Kassenabstimmung, Pause oder Schließung der Bank war nicht zu denken. Richtlinien wurden zeitweise außer Kraft gesetzt, die Kassierer vollzogen fliegende Wechsel und unser Chef fuhr alleine mit seinem Trabi und Kisten voll Ost-Mark zur Zentralbank, um in unserer Filiale Platz zu schaffen. Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen…

Heute weiß ich nicht mehr, wie wir Bank-Angestellten diese chaotischen Tage und Wochen ohne durchzudrehen überstanden haben. Schon acht Monate danach war die D-Mark auch bei uns im Land Zahlungsmittel. Weitere drei Monate später gab es weder meinen alten Arbeitsplatz, die Staatsbank, noch meine alte Heimat, die DDR. Beides war Geschichte. Und ich war ein kleiner Teil davon.

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