Pünktlich zur laufenden Integrationsdebatte in Deutschland ist das Buch „Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland“ erschienen. Es beleuchtet das doppelte Eingliederungsdilemma Russlanddeutscher in Deutschland aus verschiedenen Blickwinkeln.

Russlanddeutsche – präziser: vor allem die etwa eine Million „außereuropäischen” Spätaussiedler der 1990er aus den Nachfolgestaaten der UdSSR – sind ein Stein des Anstoßes in der gegenwärtigen deutschen Debatte rund um das Thema Integration. Nicht allen Spätaussiedlern ist die Anpassung an die neuen Lebensumstände in der vor Jahrzehnten und Jahrhunderten verlassenen „alten Heimat” geglückt. Im Kontrast zum Gros der insgesamt vier Millionen Aussiedler aus Osteuropa, für die Deutschland und hier vor allem die BRD bis Ende der 1980er Jahre immer ein Einwanderungsland war, ist für viele heutige Spätaussiedler das neue Zuhause (noch) ein Ort in der Fremde.

Zwischen „Rotfront“ und Deutschland

Ein Bild des kirgisischen Dorfes Rotfront ist auf dem von Sabine Ipsen-Peitzmeier und Markus Kaiser herausgegebenen Sammelband „Zuhause fremd“ zu sehen. Die beiden anderen Abbildungen zeigen Deutschstämmige bei Pawlodar und Spätaussiedler in Deutschland. Schon die Gestaltung des Einbandes illustriert ihre Situation zwischen hier und dort, zwischen verschiedenen Lebenswelten, zwischen Tradition und Moderne. Das Buch selbst beleuchtet auf rund 400 Seiten, dass Russlanddeutsche, und vor allem Spätaussiedler, mit einem spezifischen Migrationsdilemma ringen: dem der zweifachen Heimatlosigkeit, dem der doppelten Nicht-Integration. Für viele ist die neue Heimat eben kein Zuhause und das alte Zuhause war keine Heimat. In Russland waren sie die Deutschen und in Deutschland sind und bleiben sie die Russen. Eine Tatsache, auf die kaum einer der Spätaussiedler vorbereitet ist. Den spezifischen Problemen von (Spät-)Aussiedlern, die in einer Abwärtsspirale der fehlenden Integration enden können, wird in „Zuhause fremd” in 17 Fachbeiträgen nachgegangen. Die Autoren Ipsen-Peitzmeier und Kaiser haben lange am Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität St. Petersburg gearbeitet. Die Beiträge sind von deutschen und russischen Autoren geschrieben und ordnen die Debatte um die Aussiedlerintegration, angereichert durch viele Details, in den Gesamtkontext der Migrations- und Sozialforschung ein. Viele griffige Fallstudien und wissenschaftliche Schriften werden verarbeitet.

Spätaussiedler als Globalisierungsverlierer

Wie ein roter Faden durchzieht die Texte die Grundargumentation, dass gerade die Spätaussiedler wahre „Migrationsopfer” der Globalisierung und Moderne sind. Sie müssen dieser Tage eine Identität schultern, die in verschiedenen geografischen Regionen verhaftet ist. Und die besseren Zeiten der Integration als Russlanddeutsche in Deutschland sind vorbei: Aussiedler früherer Einwanderungswellen, die ab den 1950ern bis in die 1980er Jahre in die BRD kamen, verloren vorerst rasch den Kontakt zur Heimat. Und sie waren ferner meist der deutschen Sprache mächtig und hatten ihr „Deutschtum” in den Familien aktiv gepflegt. Zumeist waren sie auch gut qualifizierte Städter ohne feste traditionelle Bindungen. Ihr Zuzug als „Heimkehrer” stieß auf breite Akzeptanz, auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt waren sie gefragt. Diese früheren Aussiedler haben sich im Gegensatz zu ihren Spätaussiedler-Landsleuten recht gut integriert. Nach dem Fall des Ostblocks nahmen sie zwar durchaus wieder Kontakt zur Heimat auf, aber grenzten sich doch oft bewusst von den Spätaussiedlern ab. Diese Aussiedler der 1990er-Einwanderungswelle waren andere Menschen und mussten andere Umstände meistern. Viele von ihnen und besonders deren nicht-deutschstämmige Familienangehörige sprachen kein Deutsch. Oft stammten sie aus ländlichen Gebieten mit traditionellen Lebensweisen Einstellungen. Die Arbeitsmarktlage in Deutschland war bereits angespannt, ihre Qualifikationen kaum gefragt und die Sozialkassen als Spätfolge der deutschen Wiedervereinigung leer. Moderne Technik bietet den Spätaussiedlern heute die Möglichkeit des intensiven Kontakts mit dem einstigen „Zuhause” in der „neuen Heimat”; der Pflege ihres Daseins zwischen mehreren Orten in der heutigen Globalität. Klassische Migrationskonzepte verlieren an Wirkungs- und Erklärungskraft, wie das Buch „Zuhause fremd” aufzeigt. Und was ein solches Migrationsdasein im Alltag konkret bedeutet und welche weiteren Faktoren bei der Integration – und Nicht-Integration – der Spätaussiedler in Deutschland wirken, wird durch das Werk „Zuhause fremd” anhand mehrerer Beiträge und einzelner Studien und Beobachtungen aus konkreten Lebenswelten und verschiedenen Blickwinkeln nachgezeichnet. Das Kontaktverhalten von Jugendlichen mit türkischem oder deutschstämmigem Hintergrund zu ihren Mitbürgern wird in einer empirischen Studie verglichen. Ebenso zeigt das Buch, wie durch gesetzliche Zuwanderungsreglungen und die Einstufung als „Spätaussiedler” oder „Kontingentflüchtling” – obgleich beides oft Hand in Hand geht – neue Schranken entstehen können.

Wider Vorurteile – Aussiedler als homogene Gruppe?

Klassischen Vorurteilen gegenüber Spätaussiedlern – sie seien zum Beispiel krimineller als andere Mitmenschen – wird ebenso nachgegangen. Solche Voreingenommenheit lässt sich nicht nur durch die nicht gesonderte Erfassung der Aussiedler in den Kriminalitätsstatistiken schwerlich aufrechterhalten. Vielmehr ist Kriminalität auch bei ihnen durch typische soziale Faktoren erklärbar.

Außerdem zeigt die Lektüre von „Zuhause fremd”, dass viele Russlanddeutsche in der Sowjetzeit besonderer Entwurzelung ausgesetzt waren. Dies stärkte vor allem auf dem Lande ihren Zusammenhalt in ethnischen Glaubensgemeinschaften. Das spezifische Zusammengehörigkeitsgefühl wird von vielen Spätaussiedlern im Alltag und in religiösen Gruppen, die ihnen eine stabile Gemeinschaft bieten, heute in Deutschland weitergelebt. Es entstehen Parallelgesellschaften, denn viele Gemeinden der christlichen Freikirchen der Russlanddeutschen fordern eine strenge Religiösität und Ethik, die der Mehrheit der Bürger in der säkularisierten deutschen Moderne fremd ist. Durch die Lektüre von „Zuhause fremd” wird allerdings ebenso deutlich: Schwarz-Weiß-Malereien führen in der Integrationsdebatte kaum ans Ziel. In „Kolonien” und religiösen Gemeinschaften der Russlanddeutschen sind auch positive Integrations- und Stabilisierungswirkungen erkennbar. Denn Migration bedeutet immer auch einen Bruch in der Biografie und dies besonders bei Jugendlichen. Hier ist Halt und Gemeinschaft eben unverzichtbar. Außerdem wird aufgezeigt, dass Russlanddeutsche nicht über einen Kamm zu scheren sind. Wären sie eine homogene Gruppe, dann hätte man sie in Deutschland schon als Wählerstamm entdeckt. Wie einer der Buchbeiträge aufzeigt, ist dies bis dato eben nicht geschehen.

Im Ganzen zeigt das Werk „Zuhause fremd“, dass sich Deutschland heute an Russischsprechende, deren Medien und eigene Ökonomie in Form von Supermärkten, Musikgeschäften, Praxen und Kanzleien gewöhnen muss. Und die Russlanddeutschen sind Teil der Integrationsdebatte um Deutschland als Einwanderungsland. Ein Land für Einwanderer, von denen zwar gewisse sprachliche und soziale Teilhabe eingefordert werden kann, die aber gleichzeitig ihre Bikulturalität und ihre Eigenheit pflegen, ja, zwei Heimaten behalten wollen. In eine ähnliche Richtung zeigend, formulierte der dänische Journalist Flemming Rose unlängst in Bezug auf ähnliche Akzeptanzprobleme in seinem „faulen Heimatstaate Dänemark”: „Aber was ist mit den dunklen, bärtigen neuen Dänen, die zu Hause arabisch sprechen und auf der Straße schlechtes Dänisch? Wir Europäer müssen eine tiefgreifende, kulturelle Anpassung durchmachen, damit wir begreifen, dass auch sie Dänen sind.” Für jeden, der seine „außereuropäischen” deutschen und oft russischsprachigen Mitbürger aus der ehemaligen UdSSR besser verstehen will – ebenfalls eine Integrationsvoraussetzung – empfiehlt sich der facettenreiche Sammelband „Zuhause fremd” als Lektüre.

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„Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland“, herausgegeben von Sabine Ipsen-Peitzmeier und Markus Kaiser, erschienen im trans-cript Verlag, bibliotheca eurasica, Bielefeld 2006.

Von Gunter Deuber

30/06/06

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