Der Straßenverkehr in Deutschlands Hauptstadt ist für Autos ausgelegt. Während Politiker von Nachhaltigkeit sprechen, vom Klimawandel und erneuerbaren Energien, könnten einfache Änderungen im Verkehrssektor Berlin zum Wahrzeichen einer zukunftsorientierten Städteplanung werden lassen. Die Lösung fährt auf zwei Rädern statt auf vieren: Es sprechen viele Gründe dafür, dem Fahrrad im Stadtverkehr Priorität einzuräumen. Doch was über bürokratische Hürden ins Stolpern gerät, nehmen die BürgerInnen mittlerweile selbst in die Hand – und bringen die Hauptstadt ins Rollen.

Berlin Moabit, Turmstraße Ecke Beusselstraße. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs nach Hause. Der Gehweg an dieser Straßenecke ist meist voll von Menschen und so ist auf dem Fahrradweg, ein roter Streifen mit weißer Umrandung auf dem Bürgersteig, oft kein Durchkommen. Auf der Turmstraße hingegen fahren die Autos im Feierabendverkehr zu schnell, um mich auf dem Fahrrad sicher zu fühlen. Je nach Verkehrssituation fahre ich also mal auf der Straße und mal auf dem Fahrradweg. An Zwischenlösungen sind wir FahrradfahrerInnen in Berlin aber gewöhnt.

Zwei Situationen, die ich als Fahrradfahrerin an eben dieser Straßenecke innerhalb weniger Wochen erlebt habe, beschreiben gut die derzeitige Verkehrssituation in der Großstadt: Als ich eines Tages auf dem Fahrradweg fahre, werde ich von einem Polizisten angehalten, der mir weismacht, der rote Streifen mit weißer Umrandung sei trotz aller Hinweise kein Fahrradweg, da zu seinem Beginn kein Symbol auf den Boden gemalt sei, der die farbige Markierung erst für Fahrräder legitimiere. Wochen später – jetzt fahre ich natürlich auf der Straße – stehe ich an einer roter Ampel und warte auf grünes Licht, als zwei junge Männer in einem Auto neben mir das Fenster herunterkurbeln und mich provokativ fragen, warum ich eigentlich nicht auf dem Fahrradweg führe. Ich habe ein Déjà-vu.

Und genauso ambivalent, wie diese Geschichte scheint, ist die Realität: Viele Situationen im Verkehr sind ungeklärt, oft sind sich die Verkehrsteilnehmer gegenseitig im Weg. Anstatt dies als logistisches Problem des Verkehrssektors zu erkennen, geben sich alle gegenseitig die Schuld – und in jede Situation mischt sich eine gehörige Portion Aggressivität. Straßenverkehr ist auch eine Frage der Kommunikation. Ich will in einer Stadt leben, in welcher Aufkleber wie „Parke nicht auf unseren Wegen“ nicht mehr gebraucht werden. Und da bin ich nicht die einzige.

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Viele Fahrräder in einer Stadt für Autos

Eine “Critical Mass”-Demo in Hamburg. | Quelle: Rene S./flickr

Seit Jahren erlebt das Fahrrad in der bewegungsreichen Stadt Berlin seinen Aufschwung. Der Zweirad-Industrie-Verband bewertet diese Entwicklung in seiner Verkaufsstatistik als solide: „Gründe hierfür waren […] die gesteigerte Nutzung des Fahrrads in der Alltagsmobilität aber auch die gestiegene Bedeutung des Fahrrads als Trendobjekt und Statussymbol“, gibt der Verband in der Pressemitteilung zum Fahrradmarkt 2015 bekannt. „Dem Fahrrad gehört die Zukunft“ – fasst der Verband euphorisch zusammen.

Doch bisher fahren wir auf Busspuren gemeinsam mit den Berliner Verkehrsbetrieben, wo wir uns gegenseitig aufhalten. Wir fahren auf häufig kaputten oder zu schmalen Radwegen oder auf Radfahrstreifen auf der Straße, die für Kinder nicht geeignet, zudem meistens großflächig zugeparkt sind. Wir finden uns immer wieder in brenzligen Situationen wieder. Kurzum: Berlins Straßen sind für Autos gemacht. Während nur drei Prozent der Berliner Straßen für Radfahrer vorgesehen sind, ist dreizehn Mal so viel Fläche, 39 Prozent, für fahrende Pkws vorgesehen und nochmals 19 Prozent für parkende Autos. Diese Zahlen publiziert die Agentur für clevere Städte in ihrem Flächen-Gerechtigkeits-Report 2014 und diagnostiziert damit ein eindeutiges Ungleichgewicht. Doch wer sagt denn, dass der Straßenverkehr ein Ort für Autos sein muss?

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Gründe für das Fahrrad gibt es viele

Gründe für ein besser ausgebautes Fahrradnetz lassen sich einfach finden – nicht nur aus der Perspektive der Radfahrer. Zum Beispiel in puncto Sicherheit: In Zahlen werden die Gefahren der Verkehrssicherheit jährlich von der Berliner Polizei erfasst. Zwischen sechs und 24 toten Radfahrern zählt sie jährlich seit dem Jahr 2000. Wenn es zu einem Unfall mit Radfahrerbeteiligung kommt, besteht eine über siebzigprozentige Chance, dass es zu Personenschäden kommt.

Des Weiteren wäre eine Verkehrspolitik, welche dem Fortbewegungsmittel Fahrrad mehr Priorität einräumt, der Grundstein einer grünen Stadtpolitik und nicht unbedeutend für den Klimaschutz. Mit einem ausgebauten Fahrradnetz ließen sich „die CO2 Emissionen um etwa 0,3 t pro Person aus dem Verkehrssektor einsparen.“ Mit dieser Zahl empfiehlt der Volksentscheid Fahrrad, der 2016 viele BürgerInnen Berlins zu einer Stellungnahme aufforderte, den Ausbau des Radverkehrs für die Berliner Verkehrslandschaft. Er sei neben anderen Vorteilen eine kostengünstige Maßnahme, um den CO2-Ausstoß Berlins zu senken.

Politik wird auf Fahrradtauglichkeit geprüft

Eine Verbesserung der Verkehrssituation in Berlin kann viele Gesichter haben. Doch was macht die Politik dafür? Der Berliner Senat hat das Ziel erklärt, bis 2025 den Radverkehrsanteil auf 20 Prozent zu erhöhen. Was die einzelnen Parteien bezüglich der Fahrradpolitik vorhaben, hat der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club Berlin e.V. (ADFC) zusammengefasst. Dafür hat er Verkehrspolitiker im Frühjahr 2016 ins Gespräch gebeten.

Die Positionen der Politiker zu den acht Fragen des ADFC wurden im Anschluss mit Schulnoten bewertet – je nach Einsatz für die Förderung des Fahrradverkehrs in der Hauptstadt. Anwesend waren die Linke, die Grünen, SPD, CDU und die Piraten. Auffallend war insbesondere die massive Spanne zwischen den finanziellen Mitteln, welche die verschiedenen Parteien für die Förderung des Fahrradverkehrs bereithielten: Sie erstreckte sich von sieben bis 40 Millionen Euro. Letztendlich wurde die Linke mit der Note 1,3 und die Grünen mit 1,4 bewertet und galten damit als Gewinner der Wahlprüfsteine. Im Gegenzug stand die CDU mit der Note 4,3 als haushoher Verlierer da, während die SPD und die Piraten hingegen mit einer nichtssagenden 3,1 ebenso enttäuschten.

Die Grünen überzeugen insbesondere mit ihrem Projekt „Berliner Fahrradstraßennetz“, welches 2014 dem Senat als Vorschlag zur Ausweitung eines ganz Berlin umfassenden Netzes aus Fahrradstraßen vorgelegt worden ist. Der Entwurf beinhaltet Vorschläge von BürgerInnen, welche im Anschluss mit einer Machbarkeitsstudie unterlegt worden sind.

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Bewegung kommt von unten

Doch dies sind alles nur allzu dürftige Anfänge. Wo die Politik nicht zu Rande kommt, beginnt es, im Untergrund zu grummeln. Zahlreiche Bewegungen zeugen von der Notwendigkeit einer Veränderung.

Dem Volksentscheid Fahrrad geht es darum, die Stadt Berlin schnell und effizient fahrradfreundlich zu gestalten. Die Radverkehrsstrategie des Berliner Senats geht den OrganisatorInnen des Volksentscheids einfach nicht schnell genug. Aufgrund seines ehrenamtlichen Engagements hat der Radentscheid 2016 den EUROBIKE Award in der Kategorie „Konzepte und Dienstleistungen“ überreicht bekommen. Die Begründung greift unter anderem das Problem auf, das aus der Benotung der Parteien durch den ADFC zu schließen ist: „Der Volksentscheid Fahrrad in Berlin ist weltweit einzigartig, denn erstmals zwingen Bürger die Politik, massiv in die Radinfrastruktur zu investieren.“

Die Forderungen des Radentscheids betreffen vor allem den umfassenden Ausbau eigenständiger asphaltierter Radwege als Alternative zu dem derzeitigen Mosaik aus Möglichkeiten, sich als Radfahrer durch Berlin zu bewegen. Bei den zehn Zielen des Volksentscheids geht es darum, dass sich die Verkehrsteilnehmer nicht gezwungenermaßen gegenseitig behindern, dass die Sicherheit steigt, Radfahren effizienter wird und auch in der Stadt Spaß macht. Und letztendlich soll das neue Gesetz langfristig dazu führen, mehr Menschen auf den Sattel zu verhelfen: Man stelle sich eine Stadt vor, in welcher sich der Großteil der BürgerInnen mit dem Fahrrad vorwärts bewegt: Kinder, Alte, Geschäftsleute, Reiche, Arme; zum Spaß und aus Notwendigkeit.

Für den Volksentscheid, der ein neues Radgesetz fordert, wurden im Sommer 2016 über hunderttausend Unterschriften innerhalb von drei Wochen gesammelt – das sind fünf Mal mehr als für einen Volksentscheid benötigt. Unter den Befürwortern befinden sich nicht nur Radfahrer, denn ein neues Radgesetz steht aus nachvollziehbaren Gründen im Interesse aller Verkehrsteilnehmer.

Die kritische Masse zeigt Präsenz

Auch Bürgerinitiativen wie Critical Mass zeigen die Präsenz der fahrradfahrenden Stadtbevölkerung, die immer weiter zunimmt. Zwei Mal im Monat treffen sich Menschen auf zwei Rädern, um gemeinsam, als große und immer weiter wachsende Gruppe, durch die Straßen ihrer Stadt zu radeln. Die kritische Masse, die sie dabei darstellen, ist eine friedliche Demonstration – weder werden Verkehrsregeln verletzt, noch möchten sie jemandem im Weg sein. Es ist bloße Präsenz, die eine große Wirkung zeigt. Der Gruppe wird häufig eine Behinderung des Verkehrs vorgeworfen – dabei sind bloß zwei Mal im Monat so viele Radfahrer in einer Dichte miteinander unterwegs, die sonst nur an den Autoverkehr erinnert.

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 Radbahn statt Autobahn

Ein weiteres Projekt ist die Radbahn. Der unter der Hochbahn-Strecke der U-Bahnlinie 1 liegende Platz soll als Radweg nutzbar gemacht werden, um Fahrradfahrenden eine schnelle Verbindung durch die Stadt zu ermöglichen. Diese von Architekten durchdachte Idee hat die Devise, vorhandene Ressourcen effizient zu nutzen, leise und umweltfreundlich zu sein – und die Idee ist damit zukunftstauglich: „Über den rein praktischen und umweltschonenden Ansatz hinaus will das Projekt mit unkonventionellem Geist und spektakulärem Design der Stadt ein der Zukunft zugewandtes Wahrzeichen schenken und die Debatte für ein fahrradfreundlicheres Berlin in Gang setzen.“

Lastenrad als Zukunft des Autos?

Ebenfalls progressiv präsentiert sich das Lastenrad-Netzwerk: Es ist eine offene Werkstatt in Berlin Treptow, welche durch Wissensaustausch Menschen dazu motivieren will, sich ihr eigenes Lastenrad zu bauen. Mit der Hilfe Fachkundiger können hier Motivierte Teile alter Räder und Restmaterialien zusammenschweißen und sich auf diese Weise ein persönlich zugeschnittenes Lastenrad bauen. Das motiviert. Ein Lastenrad ermöglicht den Transport von größeren Gütern und kann in einigen Fällen sogar ein Auto ersetzen.

Doch bevor Fahrräder in Zukunft vielleicht Autos ersetzen können, bevor die Stadt grün, umweltfreundlich und gesund wird, muss zunächst der Platz für mehr Fahrräder in der Stadt geschaffen werden. Es muss sich zwangsläufig etwas ändern. Wie wir sehen, kann Änderung auch von unten kommen. Die Verkehrslandschaft der Stadt hat sichtlich ein Problem – doch der Lösungsansatz hat viele Gesichter.

Inés Noé

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