„Dickes B oben an der Spree, im Sommer tust du gut und im Winter tut’s weh…“, dichtet die Berliner Band „Seed“ über ihre Heimatstadt und beschreibt das Phänomen einer Metropole, die jedes Jahr im Frühjahr erneut aus einem winterlichen Dornröschenschlaf erwacht.

/Bild: Merle Hilbk. ‚Wenn der Sommer in Berlin Einzug hält, zeigt die Stadt, wie hier am Reichstag, ihr schönstes Gesicht.’/

Berlin ist die einzige deutsche Stadt, die hält, was ihr Stadtmarketing verspricht: Eine Hauptstadt der Gefühle zu sein. Der – was das Stadtmarketing verschwiegen hat – heftigen, schnell wechselnden. Ein Ort für Manisch-Depressive. Eine Weltmetropole der Gefühlsschwankungen. Denn Berlin – das ist einerseits ein ewiger Winter, das grauste Grau, eine Melancholie, die sich schwer und kratzig wie eine Wolldecke auf die Seele legt.

Wer einmal am Neujahrsmorgen mit der S-Bahn von Schönefeld übers Ostkreuz bis zum  Ku’Damm gefahren ist, weiß, dass diese Stadt genauso abweisend wirken kann wie (noch) ärmere, kältere, östlichere Metropolen; genauso unwirtlich wie Minsk, Astana oder Ulan-Bator im November, Dezember, Januar. Die Leute laufen mit hochgezogenem Kunstpelzkragen durch die Straßen, schweigen oder schimpfen, und tragen dabei eine Gesichtsfarbe zur Schau, die an den schmutzigen Schnee zu Beginn der Tauperiode erinnert.

Winter – das ist die Zeit, in der das politische Herz auf Hochtouren pocht; in der Bundespräsidenten Ruck-Reden halten und die soziale Kälte im Land beklagen, in der Reformen ersonnen und Kanzlerkandidaten gesichtet, Minister gestürzt und Skandale ans Licht befördert werden.

Berlin im Winter – grau und trist

Denn das ist auch die Zeit, in der die Berliner ihren Flat-Screen-Fernseher nutzen, freiwillig Polit-Talkshows über sich ergehen lassen und manchmal sogar ein bisschen Mitleid mit den Gästen in Anne Wills Polit-Talkshow zeigen. Die Zeit, die ihnen schonungslos vor Augen führt, wie viele still gelegte Baustellen ihre Stadt besitzt, wie unharmonisch, unfertig, ja, zerrissen sie sein kann. Eine Zeit, in der nur die düstersten Gefühlszustände zwischen den Brandmauern und Hinterhöfen Platz zu haben scheinen: Stagnation, Resignation, Depression.

Entsprechend düster ist auch das Vokabular der in ihr mindestens zeitweise hausenden Berufspolitiker. Vor Flauten warnen sie dann, mit sorgenvollen Mienen und hängenden Mundwinkeln, vor fatalen Fehlentscheidungen und natürlich vor dem Abschwung. Die Berliner schauen dann aus dem Fenster auf das unrenovierte Haus gegenüber, nicken bekümmert und öffnen mit einem Plopp die nächste Molle.

Im Sommer leuchtet Berlin

Und dann reißt eines Morgens der Himmel auf, die Knospen an den Bäumen schwellen auf Taubenei-Größe, und dann ergießt sich eine Woge Grün über die Straßen von Ost und West.
Die Kneipenwirte im Bötzow-Viertel zerren ihre aufs Allermalerischte abgeblätterten Provence-Cafehaus-Stühlchen ans Tageslicht, aus den Fenstern am Helmholzplatz klingt und pulst bis Mitternacht Minimal Techno, und die Frauen von Friedrichshain wagen sich in täglich kürzer werdenden Röcken auf die Oberbaumbrücke.

Das sind die Momente, in denen Berlin leuchtet. In der die Brachen, die Baustellen, die kaum kaschierten Kontraste zum Lebendigkeitsbeweis werden, zum hoffnungsschwangeren Verweis auf eine helle, viel versprechende Zukunft. Zum Puls einer Stadt, die im Sommer zum unheilbaren Hypertoniker wird.  In denen sich die Stadt in eine Filmkulisse verwandelt, deren Licht an den Abenden so klar ist, als habe jemand den Himmel mit Ariel oder Spee gereinigt. Wenn der Sonnenball Stück für Stück in die Spree eintaucht, hocken sie zu Hunderten, zu Tausenden auf den Brücken, am Rande der Fahrbahn und auf den Schienenschwellen, mit nackten, gebräunten Füßen in neonfarbenen Flip Flops: Die Mitglieder der internationalen Backpacker-, Praktikanten- und Künstler- Hautevolee, die geistesabwesend an einem Becks Gold oder Mochito-to go nippen und in Dutzenden von Sprachen flirten. Mit ihrem Nachbarn und vor allem aber mit der Stadt.

Ende Mai füllen sich dann endlich auch die wilden Stadtstrände hinter dem Ostbahnhof mit auf Feierabendentgleisung hoffenden Ministerialdirigenten, und der lärmende Politikbetrieb Berlins mutiert zu einem leisen, höchstens noch unterbewusst wahrgenommenen Hintergrundrauschen.

Sommer in Berlin. Das heißt: Der viel zitierte Schlaf der Vernunft gebiert keine Ungeheuer mehr. Sondern ein Gefühl von Freiheit, das die Berliner in einen Rausch versetzt – den sie nur noch in Ausnahmefällen mit einer „geringen Menge“ am Leben halten müssen.

Ein Rausch, der sie, die im Winter wie Amöben durch den riesigen Stadtkörper schwimmen, nun wie die Herrscher eines Imperiums durch seine sonnenhellen Kulissen wandeln lässt.
Ein duales Gefühl, das Marx vor über hundert Jahren „fortwährend mit seinem Gegenteil schwanger gehend“ beschrieben hat. Und eine Berliner Popband namens „Die Sterne“ heute so zusammenfasst: „Wir steigen irgendwo aus, und wissen nicht mehr, wo wir sind./ Die Welt ist voller Zeichen, doch für die meisten sind wir blind. / Wir kommen durcheinander mit verschiednen Signalen/ wenn uns was zu krass wird, wolln’ wir das nicht haben.“
Das klingt zugleich nach friedlicher Selbstvergessenheit und Weltoffenheit; nach dem durchaus erbaulichen Ergebnis eines Modellversuchs, der in den Leitmedien-Feuilletons technokratisch-abstrakt „Berliner Republik“ genannt wird.

In Kreuzberg hätte man diesen Dualismus in den 60-er, 70-er Jahren wohl „Das richtige Leben im falschen leben“ genannt. Doch seitdem eine Generation von Soziologen die Deutungshoheit in Form von C4-Lehrstühlen erobert hat – Gesellschaftsanalysten, die den theoretischen Beweis führen wollten, dass dieser Satz lediglich auf einen Systemwiderspruch hindeute, einen unvertretbaren noch dazu – haben sich die Begrifflichkeiten geändert. Die Sache freilich ist dieselbe geblieben.

Liebesgeschichte mit Tiefs

Die Sache, das heißt in Berlin: die Suche nach der friedlichen kleinen Nische, in die man den Weltgeist ab und zu ein wenig hinein wehen lassen kann. Eine sehr alte, sehr deutsche Suchbewegung, die in der Romantik ihren Ausgang nahm, in den Gedichten von Novalis und dem romantischen Schlüsselsatz von Joseph von Eichendorff: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / die da träumen fort und fort, / und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort.“

Dieses Zauberwort heißt nicht einfach „bitte“ wie es auswärtige Höflichkeitsmissionare den Berlinern fortwährend weiszumachen versuchen. Sondern, schlicht und einprägsam, „Sommer“.  Ein heißer, gleißend heller Sommer, der diese Stadt zum Leuchten bringt wie keine andere in diesem Land.

Berlin, das kann – Vorsicht! – schnell zu einer lebenslangen Liebesgeschichte werden. Die wie jede echte Liebesgeschichte natürlich auch ihre Tiefs haben wird. Wie gesagt: Der Winter. Die Baustellen. Die sorgenvollen Politiker und schlecht gelaunten Amöbenwesen. Eines aber wird diese Geschichte freilich niemals werden: emotionslos. Denn wie heißt es noch gleich am Schluss des „Sterne“- Liedes? „Wir sind viele, und wir sind zu zweit./ Wir sind big in Berlin tonight.“

Von Merle Hilbk

07/08/09

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