Viktor gibt mir Russischunterricht. Und das ist gar nicht so einfach. Für beide. Wobei ich sagen würde, es ist für mich einfacher, Russisch zu lernen als für andere, es mir beizubringen.

In Russland habe ich etliche Russischlehrerinnen „verheizt“. Ist aber auch wahr. Sie wollten im Schneckentempo Satz für Satz, Seite für Seite das ganze Buch mit mir durchgehen, bis ich jedes Wort und jede Regel aufgenommen, verstanden, verdaut und zur Anwendung gebracht hätte, auf dass wir in zwei Jahren beim Genitiv Plural angelangt wären.
Das Problem war nur: Meine Zeit in Russland war auf zwei Jahre begrenzt. Es macht erwiesenermaßen keinen Sinn, eine Sprache erst dann zu können, wenn man das Land wieder verlässt. Und würde man im Russischen die Äpfel nicht im Genitiv bestellen, sondern im Akkusativ, den man laut dem Lehrbuch früher lernt als den Genitiv, wäre ich auch zufrieden gewesen. Als hätte die russische Sprache nicht schon genug Hürden zu bieten, sollte ich auch noch die Hobbies von Igor Iwanowitsch lernen. Was er gern lese, fragte mich meine Russischlehrerin. Er lese gern Bücher, antwortete ich. Nein, falsch! sagte meine Lehrerin. Er lese gern Zeitung, ob ich denn auf den vorherigen Seiten nicht aufgepasst hätte! Erstens war ich beleidigt, dass ich für meinen richtig gebildeten Satz und die wohl artikulierte Aussprache nicht gelobt wurde, und zweitens war und ist mir eh egal, ob Herr Dingsbums gern Bücher oder Zeitung liest.
So habe ich mir Russisch lieber selbst beigebracht. Das klappte besser. Dachte ich. Bis Viktor kam. Viktor muss das Ergebnis jetzt ausbaden. Viktor findet, ich solle doch bitte in ganzen Sätzen reden. Das tue ich doch, dachte ich. Na gut, seine Sätze sind immer viel länger als meine, also erweitere ich auch meine Aussagen um manche Wörter. Viktor ist noch nicht ganz zufrieden. Es fehlen noch immer Satzteile, vor allem die Verben würde ich konsequent weglassen. Mir schwant, das ist das Ergebnis, wenn man eine Sprache auf der Straße, im Supermarkt, im Zug, von Anglern und am Lagerfeuer lernt. Da ich mich aber meist auf der Straße, im Supermarkt, im Zug, mit Anglern und am Lagerfeuer aufgehalten habe, passte das. In Russland kann man sich halbverstehend nuschelnd durch die überschaubaren Dialoge des Landes mogeln. Mit Viktor geht das nicht. Und ich möchte jetzt nicht so genau wissen, wie es auf Deutsch klänge, was ich im Russischen sage. Bei Viktor darf ich auch nicht bei Orts- und Zeitangaben mogeln. Ich behaupte, dass man von Moskau nach Sibirien sieben Stunden fliegt. Und dass ich in Nowokusnezk gelandet bin. Da Viktor aus Sibirien stammt, weiß er, dass der Flug erstens nicht so lange dauert und zweitens kein Flugzeug in Nowokusnezk landet, sondern in Nowosibirsk. In Russland wären mir diese Aussagen glatt durchgegangen, aber schließlich sind wir nicht in Russland, Viktor ist kein Angler und darum ist jetzt Schluss mit den Halbwahrheiten. Also, wann ich in Moskau losfliegen muss, damit ich um 16.00 Uhr in Nowosibirsk lande, fragt Viktor. Und weil er nicht nur genauer, sondern auch sensibler als die Russen in Russland ist, merkt er, dass er mich damit überfordert, wenn ich mich gleichzeitig richtig erinnern, auf Russisch rechnen und auch noch vollständige Sätze bilden soll. Er bringt mir den Satz bei: „Viktor, lass mich mit dem mathematischen Scheiß in Ruhe!“ Das lernt sich auf Anhieb viel leichter. Und damit endet unsere erste Russischstunde.

26/10/07

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