Es gibt Städte, in denen man nicht bleiben kann, weil alles noch wie früher ist, und andere, die man gerade für das liebt, was verschwunden ist. Die Stadt- und Stadtteilbücher des Verbrecher Verlags

Sie sehen gut aus. Schwarzer Titel auf weißem Cover, dazu ein tristes, graues Foto. Ein ausdrucksstarkes Label für eine interessante Reihe, die der Berliner Verbrecher Verlag seit drei Jahren betreibt: Eine Reihe mit Stadt- und Stadtteilbüchern, voller subjektiver Geschichten um Orte herum. Bislang sind darin das Kreuzbergbuch, Mittebuch und Neuköllnbuch, das Marburganderlahnbuch, das Bielefeldbuch, das Hamburg- und das Münchenbuch, und, frisch aus der Druckerei, das Leipzigbuch erschienen.

Es sind schöne Bücher, diese Stadt- und Stadtteilbücher, und trotzdem tragen sie einen Grundwiderspruch mit sich herum: Sie tun so, als wären sie literarische Reiseführer, geben in Wahrheit aber kaum Aufschluss über die Städte, von denen sie handeln. Man kann sich nur vorstellen, was sie beschreiben, wenn man ein paar Mal da war und jederzeit selbst eine Geschichte zur Stadt hätte beitragen können, ja fast ein wenig beleidigt ist, weil man nie gefragt wurde, ob man nicht auch mitschreiben will. Die Autoren, die vertreten sind, sind bestenfalls auf Berliner und zwei, drei anderen Lesebühnen im Rest der Republik bekannt und wie es sich für Szeneanthologien gehört, muss man sich oft stur durch grobes Kraut und harte Rüben beißen, bis man wieder über Schönes, Poetisches oder anderweitig Überraschendes stolpert.

Wo mögen sie sich verkaufen, diese Bücher? Wohl kaum in den Bahnhofsbuchhandlungen der Städte, die sie beschreiben. Und wohl leider auch nicht so reißend, wie sie es verdienten, in den Buchläden der Stadtteile, die sie beschreiben, dort, wo jetzt auch die einkaufen, die Marburg, Bielefeld und Leipzig verlassen haben und sich noch einmal erinnern mögen.

Vielleicht hätte man sich eine andere Marketingstrategie ausdenken müssen, ein Label wie die Anthologie „Öde Orte“, in der es anders als bei den Stadt- und Stadtteilbüchern ausschließlich um die Langeweile ging – eben ein Name, der weniger in die Irre führt. Denn andererseits ist es ja gerade die Qualität dieser Bücher, dass man sie nicht liest, um eine Stadt kennen zu lernen. Man liest sie, weil sie mehr als das sind: Mentalitätsgeschichten aus der deutschen Provinz der Siebziger, Achtziger und Neunziger, Geschichten aus der BRD und der DDR, Geschichten letzter linker Hochburgen, florierender Gegenkulturen, trister Innenstädte, hinreißender Dorfdiskos, erster berauschender Besuche im Osten nach dem Mauerfall, Geschichten über Kindheit, Jugend und Sex, den Versuch, sich an anderen Orten neu zu erfinden, die Entscheidung, hängen zu bleiben, wo man ist, oft trotz der Angst vorm Erwachsenwerden. Sie handeln vom Mut zum Lokalpatriotismus. Und von der Entdeckung, dass es ganz egal ist, ob man in Neukölln wohnt oder in Kreuzberg oder in Bielefeld, wenn man sich nur entscheidet, einen zufällig gewählten Ausschnitt Ort ganz genau unter die Lupe zu nehmen und nichts daran auszulassen.

Dann wird man nämlich auf viele unterschiedliche Milieus treffen, oder, wie Christian Y. Schmidt in seiner nostalgischen Geschichte über Bielefeld schreibt: „Das Leben war interessanter. Auch weil wir viel verschiedener waren als später … Zu uns gehörten Alkoholiker, Jobber, Krankenschwestern, Kleinkriminelle, Rocker, Verkäufer, Drogensüchtige, Handweberinnen, LKW-Fahrer, Penner, Schüler, Dealer, Debile und Studenten.“ Etwas später muss Christian Y. Schmidt dann nach Neukölln ziehen, nachzulesen im Neuköllnbuch. Und siehe da: Auch hier muss man nur genau gucken und schon gibt es sie wieder, diese tolle Diversifikation. Vom Balkon seiner Ofenheizungswohnung schaut er den türkischen Kindern auf der Straße zu und verliebt sich dann in eine Angestellte der Marketingabteilung der Gasag.

Apropos Christian Y. Schmidt, der übrigens, falls das jemand noch nicht weiß, Titanic-Redakteur war, einen Bestseller über Joschka Fischer schrieb, eine Zeit lang als verschollen galt und zurzeit Möbelfachverkäufer in Peking sein soll: Die schönste Geschichte im soeben erschienenen neuesten Band der Stadtbücher, dem Leipzigbuch, dessen Erscheinen heute Abend gefeiert wird, stammt von ebendiesem. Sie handelt von der Sehnsucht nach einer Welt, die einen kurzen Moment lang ganz anders war als das, von dem „wir Westler“ alle so gelangweilt waren.

Sie handelt davon, wie einer nach Leipzig zog, sich mit zynischen Theologiestudenten anfreundete, die Sonnenuntergänge schöner fand als zu Hause, herausbekam, dass das an der Luftverschmutzung lag, vor die Tore der Stadt fuhr und die Kohlekraftwerke bestaunte. Selten ist die Ostalgie der Westler, die manchmal reiner und ehrfürchtiger war als die der Ostler, schöner beschrieben worden als von ihm: „Hinter den Abgasschwaden, die über die Straße fegten, weit hinten in der Steppe konnte man Mongolen auf kleinen zähen Ponys reiten sehen“, erzählt er einmal und ein andermal, dass er versuchte, sich einzuprägen, wie sie aussah, diese wunderbare Welt ohne „Waschanlagen, Autohäuser und Möbeldiscounter“. Einfach zauberhaft.

Doch auch andere Geschichten in diesem neuen Leipzigbuch lesen sich ganz herrlich. Interessant, von einem zu erfahren, der immer dort lebte und, wie es scheint, dort bleiben will: von Tobias Rentzsch, einem Musikjournalisten und DJ, der über seinen Lieblingsfleischer geschrieben hat. Er schildert diesen kleinen Ort mit blauen Kacheln als Insel im Sturm, als Baumstamm im reißenden Fluss, an dem man sich super festhalten kann nach durchzechten Nächten und in Zeiten von Aldi und Billiganbietern von ranzigem Eiersalat. So, wie er den Punkt trifft, indem er einen winzigen Teil der Stadt von innen beschreibt, so erwischt ihn Tina Übel, indem sie sich einen genauso winzigen Teil von außen vornimmt: Sie, die Autorin und Mitbegründerin von Hamburgs berühmtester Lesebühne, beschreibt den einzigen Ort, den sie in Leipzig kennt, weil sie immer gleich vom Bahnhof dorthin durchflutscht: Ilses Erika, die Bar, die jeder kennt, der Ort in der Fremde, wo sich das Eigene versteckt.

Und wie man so rumschmökert, in diesem Leipzigbuch, und zurückdenkt, wie anders es sich anfühlte, von Marburg oder von Bielefeld zu lesen, da fällt einem noch etwas auf. Ganz en passant bekommt man in diesen Büchern auch Typologien von Städten entworfen: Marburg, eine Stadt, die es gar nicht mehr gibt. Eine Stadt, an die sich die meisten nur im Rückblick erinnern, weil es sich schlecht aushalten lässt an einem Ort, wo sich nichts neu besetzen lässt, an dem es noch DKP-Sommerfeste, Kommunen und Kneipen gibt, die Bettenhaus und Havanna heißen. Bielefeld, eine leere Stadt, eine langweilige Stadt, die noch niemand geschafft hat zu füllen, zumindest nicht mehr seit den frühen Achtzigern. Und Leipzig, die schrumpfende Stadt, die Stadt für Pioniere, die seit 1989 immer wieder neu erfunden wird.

Deshalb zum Schluss eine Bitte an die Verbrecher-Verleger: Wäre es nicht prima, die Reihe zu öffnen, Bücher für Städte auf der ganzen Welt zu machen? Eins für Singapur, die starre Stadt, eins für Iwanowo, die sterbende Stadt, eins für Chongquing, die explodierende Stadt am Staudamm, und immer so weiter?

„Das Leipzigbuch“. Verbrecher Verlag, Berlin 2005, 224 Seiten, 13 Euro.

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