Es gibt eine von Naivität schmerzende Theorie, dass alle Kulturen gleich sind. Demnach seien alle Sprachen, alle Religionen, alle Werte und Mentalitäten gleich. Das Roulette der Geburt wirft dich in ein Leben hinein, das du so selbstverständlich annimmst, wie deine Eltern dich annehmen.

Du vergibst deine Grundausstattung an Emotionen an die Widrigkeiten oder Freuden deiner Realität, gründest Familie, arbeitest, lebst, strebst nach Glück. Gelegentlich machst du Urlaub in einem warmen, benachbarten Land, und der Anblick von geldgierigen Abzockern, überforderten Eltern und billiger Romantik festigt deine Ansicht, dass es auf der ganzen Welt die gleichen menschlichen Gesetze herrschen und die unterschiedlichen Kulturen lediglich Dekorationen sind… Wie gesagt, eine Theorie.

Nicht nur Menschen, die das Schicksal schon mal veranlasst hat, ihre Heimat zu verlassen, wissen, dass es auf der großen Börse der Kulturen sehr wohl Gewinner und Verlierer gibt. Man muss nicht auf der Flucht vor Tyrannei in einem Fischerboot den Ozean überqueren, um zu wissen, dass es auf der Welt Länder gibt, an denen man lieber vorbeitreiben, und die, in denen man lieber landen sollte. Wir Migranten wissen es aber vielleicht ein Bisschen besser als andere. Als Zugvögel der Menschheitsgeschichte besitzen wir einen inneren Kompass, der uns immer den Weg zu neuen Zielen zeigt.

Zu Begin der 1990er, als ich meine Migrantenflügel ausbreitete, zeigten die Nadeln nach Westen. Mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche brachen damals auf, und unser gelobtes Land hieß Deutschland. Wir hatten keinen Moses, der uns 40 Jahre lang etwa durch die polnischen Dünen wandern ließ, aber wenn man die Wartezeiten meiner Landsleute vor dem Eingang der deutschen Botschaft in Moskau zusammenrechnet, kann man ruhig von biblischen Ausmaßen sprechen.

Heute, nach so vielen Jahren, kommt mir unser Exodus in der Tat sehr biblisch vor. Es ist für mich wie eine alte, überlieferte Legende, obwohl ich dabei war und mich an viele Einzelheiten erinnere. Ich erinnere mich daran, wie unser Hab und Gut zu Geld gemacht wurde, um uns schließlich wie Sand durch die Finger zu rinnen. Unzählige Bürokraten, Hehler und schamlose Taxifahrer bereicherten sich an uns. Wie ein Meteoritenschwarm verließen wir den Planeten Sowjetunion, verglühten in der Atmosphäre der Habgier und fielen als nackte Steine auf den Planeten Deutschland runter.

Von allen Einzelheiten unserer Ausreise, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben, erinnere ich mich jedoch vor allem an das unerschütterliche Gefühl, das Richtige zu tun. Wir waren alle besorgt und ängstlich, doch jeder von uns hatte dieses Gefühl. Selbst die, die uns hinterher riefen, dass ein Schiff manchmal zu sinken aufhört, wenn es erstmal die Ratten verlassen haben, hätten insgeheim gern mit uns getauscht. Denn wir hatten den Jackpot. Und uns hätte damals niemand erzählen können, dass alle Länder gleich sind und unser Glück in der Sowjetunion liege. Natürlich waren es vordergründig materielle Interessen. Wer heute behauptet, er wanderte nach Deutschland aus, nur um in dem Land seiner Vorfahren zu leben, sollte seinen früheren Versuch einer Ausreise in die DDR belegen können. Die historische Heimat lockte vor allem mit allgegenwärtigem Wohlstand.

Aber nicht vom Brot allein ist der Russlanddeutsche satt. Obwohl wir heute objektiv reicher sind, sind wir dennoch subjektiv ärmer, befinden wir uns doch in der deutschen Gesellschaft im unteren Teil des Mittelstandes. Diesen sozialen Abstieg ertragen wir aber gern. Denn unser innerer Kompass sagt uns nach wie vor, dass wir eine richtige Wahl getroffen haben. Wir haben damals nicht nur wirtschaftlich auf die richtige Karte gesetzt. Und auch das politische System vermag unsere Wahl nicht zu erklären. Nach wie vor tun wir Russlanddeutschen uns schwer mit den Begriffen Demokratie und Freiheit.

Es muss etwas Kulturelles sein, was Deutschland für uns immer noch attraktiv macht. Wir tauschten ein Land, das sich für das größte hielt und von der ganzen Welt gehasst wurde, gegen eines, das in der ganzen Welt beliebt war und dennoch vor geschichtlicher Scham errötete. Haben wir danach gesucht? Wir tauschten die beruhigende Sicherheit unserer festen Arbeitsplätze gegen Zukunftsängste der Eigenverantwortung. Hat uns das gefehlt? Wir tauschten die sozialistischen Absurditäten gegen humorlosen Pragmatismus. Haben wir uns danach gesehnt? Wahrscheinlich auch danach. Aber vor allem wurden unsere Kompassnadeln durch eine andere kulturelle, ja zivilisatorische Errungenschaft ausgerichtet – durch den Wert eines Menschenlebens. Es ist nicht der Wert dessen, was wir besitzen, der uns nach Deutschland führte, sondern dessen, was wir sein könnten. Wir ahnten es in Russland, und wir erlebten es in der Bundesrepublik. Bewusst oder unbewusst, wir spüren es alle auch heute noch: ob wir gut oder schlecht integriert sind, wir fühlen uns als respektierte Menschen. Ich, zumindest, tue es für meinen Teil und deshalb sage ich – auch, wenn es etwas verspätet kommt: Danke, Deutschland!

Anton Markschteder

29/08/08

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