Der großen Stadt entfliehen, in eine andere Welt tauchen, ohne die ganze Zeit Smog in der Nase zu haben, das klingt paradiesisch! Nicht weit von Almaty gibt es einen Hof, auf dem all dies möglich ist. Eine harmonische Zusammenkunft von Menschen, die eigentlich alle dasselbe wollen: Einfach nur glücklich sein. Aber ist das wirklich alles?

„Es ist ganz einfach, unseren Tempel zu erreichen“, erklärt Sergej, der auf dem „Arbat“ in Almaty mit seinen gottgeweihten Freunden versucht, den Menschen Krishna näherzubringen. Er hat kahlgeschorene Haare und nur am Hinterkopf einen kleinen Zopf. „Wir treffen uns jeden Sonntag, singen, essen – natürlich vegetarisch – und machen Yoga.“

Das klingt alles ziemlich entspannt. Ist das etwa eine alternative Lebensweise nicht weit von der großen Stadt?

Allein die Ankunft vor Ort ist ein Fest. Tanzende Menschen umzingeln den Bus. Die Tür geht auf, und es regnet bunte Rosenblüten. Dieser Moment zaubert jedem Ankömmling ein Lächeln ins Gesicht. Endstation Krishna-Paradies.

Jeden Sonntag um 11 Uhr fährt ein Kleinbus von Almaty in das nahe gelegene Kaskelen, wo sich der Tempel der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (ISKON) befindet. Um kurz nach elf ist der Bus voll. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Ein kleiner Junge schaut mit müden Augen aus dem Fenster.

Der Bus verlässt Almaty in eine andere Welt. Am Straßenrand rauschen hügelige Wiesen vorbei, dicht bedeckt mit dem kräftigen Rot von Mohnblüten. Hier lässt es sich bestimmt gut herumtoben oder Purzelbäume schlagen. Dahinter schimmern die riesigen Gebirgsgipfel des Tienschan. Ein Bild für die Götter.

Und dann erscheint unter diesen Menschen ein interessierter, freundlicher Blick. Er gehört einem weiteren Kahlgeschorenen mit Zopf.

„Hare Krishna, ich bin Krishna Tschandra.“ So viel Krishna. Die Tatsache, dass er sich Krishna nennen dürfe, zeige die Zugehörigkeit zum Krishna-Bewusstsein. Im Gesicht hat er ein hellbraunes u-ähnliches Zeichen zwischen den Augen, das bis zur Nasenspitze führt. Es handelt sich um das Segenszeichen der Vishnu-Verehrer, welches mit Sandelholzpaste aufgetragen wird. Seine Kleidung ist recht schlicht. Er trägt ein weißes Mönchsgewand und um den Hals eine hellbraune Holzperlenkette. Mit freudigem Mitteilungsbedürfnis erklärt er, was sich hinter seinem symbolträchtigen Outfit verbirgt.

Die Frisur verfolgt einen besonderen Zweck: Sollte ein Gottgeweihter sich in der Hölle bzw. in Schwierigkeiten befinden, kann Krishna ihn am Zopf herausziehen. Die Frauen haben leider keinen solchen Zopf. Das Gewand ist die spirituelle Uniform. Sie ist so schlicht, um die Abkehr von der materiellen Welt da draußen zu demonstrieren. Ein zentraler Gedanke der Krishna-Bewegung.

Priester haben orangefarbene Uniformen. Frauen tragen bunte Blumenröcke oder Saris. Die Farben sind schön. Vor allem bei der Dekoration des Gebetsraumes. Der auf einem goldenen Podest sitzende Abhay Charanaravinda Bhaktivedanta Swami Prabhupada begrüßt die Eintretenden mit ernster Miene. Die meisten verbeugen sich so tief, bis sie mit dem Kopf ganz sachte den Boden berühren. Es sieht sehr hingebungsvoll aus. Doch eine Reaktion des dort hockenden Gründers der ISCON wird es nicht geben. Erst bei genauerem Hinschauen wird ersichtlich, dass es sich um eine Wachsfigur handelt. Dann setzen sich die Besucher auf den Teppich in der Mitte des Raumes.

Die Wände sind mit bunten, in Gold gerahmten Gemälden von dem Flöte spielenden Krishna behangen. Das Prachtstück des Tempels ist selbstverständlich der Altar, der geschmückt ist mit unzähligen bunten Bildern, Puppen und Blumen. Die sogenannten Murtis (Altargestalten) sind „transzendental“, also quasi lebendig. Daher müssen auch sie essen. Das Opferessen für die Murtis wird an der Seite des Altars drapiert.

„Hare Krishna. Hare Krishna. Krishna Krishna. Hare Hare, Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama“, chantet die Vorsängerin, die vor der Gruppe von Gottgeweihten und Besuchern Platz genommen hat. Dies ist das wichtigste Mantra, welches in jeder Lebenslage immer und immer wiederholt werden kann. Chanten bedeutet Mantren singen. Links von ihr sitzen zwei Priester, die die Sängerin auf indischen Trommeln begleiten. Abgerundet wird die Performance mit den sanften Klängen eines Harmoniums. Plötzlich ertönt ein lautes Tröten. Ein weiterer Krishna-Gläubiger im weißen Gewand pustet ein paar Mal in eine Muschel. Dann stellt er sich neben den Altar und wedelt mit einem Puschel durch die Luft. Es riecht nach Räucherstäbchen. Die Frau singt vor, die Gruppe singt nach. Leidenschaft liegt in der Luft. Eine alte Frau klatscht mit geschlossenen Augen zum Takt in die Hände. Bei dieser interaktiven Darbietung werden alle Sinne bedient. Nein! Halt! Es geht hier schließlich nicht um Kunst, sondern um Religion.

Bhakhti: Vom Hippie zum Guru

Nach dem Gesang geht es an die frische Luft. Hinter dem Tempel blühen Apfelbäume, so weit das Auge reicht. Daneben befindet sich ein riesiger Acker, auf dem Kohl und Salat angebaut werden. Die Menschen, die hier leben, versorgen sich zum großen Teil selbst.

Krishna Tschandra erklärt aufgeregt: „Das ist eine Kuh und man kann sie anfassen.“ Und tatsächlich, auf der Wiese liegt, an den Hörnern angebunden, eine Kuh im Gras! Für die Krishna-Gläubigen gilt die Kuh als heilig. Ihre Hörner dürfen nicht abgetrennt werden. Das verbieten die Veden. In den Hörnern steckt die meiste Energie.

Auf dem Hof gibt es viel zu entdecken. Wie viele herrliche Geschöpfe es hier gibt! Wie schön der Mensch ist! Es gibt sogar ein kleines Café, in dem es süße und herzhafte kasachische Leckereien zu kaufen gibt.

Doch auch das Chanten soll nicht zu kurz kommen. Neben dem Café befindet sich der riesige Pavillon, in dem das fröhliche Mantra-Singen weitergeht. Männer und Frauen müssen getrennt sitzen. Laut dem Krishna-Glauben ist die Frau das Feuer und der Mann die Butter. Klar, dass das nicht funktioniert. Hare Krishna.

Von Weitem winkt sie schon. Krishna Nayaka. Auch sie ist oft auf dem „Arbat“. Ihr Lächeln ist ein warmes Strahlen. Krishna Nayaka duftet wie ein himmlisches Seifenbad. Seit sie 14 Jahre alt ist, gehört sie der Krishna-Gemeinde an.

„Wenn im Herzen der Glaube an Gott entsteht, wenn du siehst, wie er dich von deinem Leid befreit, dann möchtest du auch anderen Menschen helfen.“

Sie hilft, indem sie heiliges Essen an Krankenhäuser verteilt und kranken Menschen Gesellschaft leistet. Gegen eine Spende verteilt sie Krishna-Bücher. „Heute ist der große Lehrer aus Amerika angereist.“, erzählt sie ganz aufgeregt. Es ist eine große Ehre, mit ihm zu sprechen.

Bhakti Bhzinga Govinda Swami heißt der Guru. Er sitzt entspannt auf einer Bank. Vor ihm auf dem Boden kniet sein Schüler. Zwei Frauen kommen herbeigeeilt. Sie verbeugen sich und bleiben mit gesenktem Kopf vor dem „Heiligen“ sitzen.

Krishna Nayaka wirbelt umher, als wäre der erste Mensch der Welt geboren. Wie ein Kampfrichter erklärt sie, wie man sich in einem Gespräch mit dem Lehrer zu verhalten hat. „Sei professionell, wenn du mit dem Lehrer sprichst. Lache nicht. Sei ernst. Es kann auch sein, dass er dich abweist“, zischt sie.

Vielleicht hat Krishna Nayaka etwas übertrieben mit ihren Vorbereitungen, denn der Lehrer wirkt ziemlich gelassen und scheint sich sogar zu freuen, ein bisschen was aus seinem Leben erzählen zu können. Ursprünglich kommt er aus Nashville. Sein Vater war der erste Manager von Musikern wie Johnny Cash und Elvis Presley. Als junger Hippie habe Bhakhti sich aber vom kapitalistischen System abgewendet und sich auf die Suche nach spirituellen Antworten begeben.

„Ich bin auf einem Musikfestival 1971 mit Krishna in Berührung gekommen. Als ich die Mantren zum ersten Mal sang, hatte ich dieses Gefühl ganz tief in mir. Es war eine unglaubliche Erfahrung.“

In den folgenden Jahren hat der Lehrer die Krishna-Bewegung nach Europa und Indien gebracht.

Er hat strahlend blaue Augen. Sein Blick ist sehr intensiv. Als würde er es wissen. Nur was?
„Es geht bei uns darum, das Glück zu finden. Das Wichtigste ist, dich selbst kennen zu lernen. Wir müssen nicht die Herkunft, Hautfarbe oder Religion eines Menschen ändern, sondern wir müssen unser Bewusstsein für uns selbst ändern. Wenn wir wirklich verstehen, wer wir sind: Das ist Glück.“

Die Menschen hier sind auf irgendeine Art und Weise glücklich, weil sie durch ihren Glauben an Krishna zu sich selbst finden. Das ist das, woran sie glauben. Ungefähr alle zwei Minuten flüstern sie Krishna-Mantren. Sie scheinen sich komplett hinzugeben. Ein Kunststück ist es wohl, das bisschen Restrealität nicht aus den Augen zu verlieren.

Maria Manowski

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