Von seinem Fenster aus kann Philipp Dippl das Studentenleben der Al-Farabi-Universität beobachten. Die Erinnerungen an sein Leben in russischen Wohnheimen holen ihn ein. In diesem Mikrokosmos der Gesellschaft findet sich noch immer das Erbe einer verschwundenen Vergangenheit.

„Lernen, lernen, und nochmals lernen!“, so soll es Wladimir Lenin einmal gesagt haben. So steht es zumindest auf vielen Fassaden von Schulen und Universitäten in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Wenn ich aus meinem Fenster in Almaty blicke, sehe ich das Hauptgebäude der Al-Farabi-Universität. Ein beeindruckender 26-stöckiger Betonbau aus den 1970er Jahren, als Leonid Breschnew in Moskau herrschte und Dinmuhamed Kunajew der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sowjetrepublik vorsaß. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen.

In einer Seitenstraße ist auch ein Studentenwohnheim zu sehen, ein alter, grauer Betonklotz, ebenfalls aus den Tagen der ehemaligen Sowjetunion. Viel von Lenins „Lernen, lernen, und nochmals lernen“, viele der schrulligen Eigenheiten des hiesigen Studentenlebens scheinen in den Bildungssystemen der ehemaligen Sowjetrepubliken bis heute überdauert zu haben.
Meine eigene Studentenzeit liegt noch nicht allzu lange zurück. Auch ich verbrachte unzählige Monate in russischen Wohnheimen in Moskau und Sankt Petersburg, wurde von der Deschurnaja, der Pförtnerin, begrüßt. Eine alte Dame, die von nun an ausnahmslos jeden meiner Schritte mit strengen Blicken beobachtete.

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Selbst hinter verschlossener Zimmertüre war Privatsphäre ausgeschlossen. Mein Zimmer war standardmäßig doppelt belegt, oft wohnen aber auch vier oder fünf Personen zusammen. Wenn die Studienanfänger hier ins Wohnheim einziehen, sind sie sehr jung, selten älter als 17. Die Deschurnaja trägt daher auch Sorge, dass um 1 Uhr nachts die Eingangstüre abgeschlossen ist. Wer später dran ist, hat Pech gehabt. Frauen schwören aber auf Bücher oder Schokolade, um den Wachdienst zu bestechen und doch einmal länger in der Disco zu bleiben. Bei mir hat es auch schon mit Wodka geklappt.

Privatsphäre ist ein Gefühl, welches man sich in einem Wohnheim generell abgewöhnen sollte. Die Gemeinschaftsküche war der zentrale Treffpunkt des Stockwerks. Kochen war allerdings immer zweitrangig, die Küche war der Ort tiefsinniger politischer und philosophischer Gespräche oder auch der ein oder anderen Runde Hochprozentigem, wenn es die Deschurnaja einmal nicht bemerkte. So habe ich es von Wladimir Wysozki gelernt, einem der größten politischen Musiker des letzten Jahrhunderts.

Alkohol und Zigaretten waren freilich verboten. Das hielt aber niemanden davon ab, auch im Treppenhaus zu später Nacht noch zu rauchen und zu trinken. Sowjetische Wohnblocks sind große, verwinkelte Gebäude, die unzählige Möglichkeiten bieten, den strengen Blicken der Hausaufsicht zu entfliehen. Selbst so einige Romanzen, so erzählt man sich, sollen sich in den obersten Treppenaufgängen unter dem Dach abgespielt haben.

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Die Winter im Wohnheim waren eisig. Studentenwohnheime werden im Herbst als letztes mit der Zentralwärme versorgt, lange nach Kindergärten, Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen. So waren manchmal bis in den Dezember hinein die Zimmer bitterkalt und die Fenster zugefroren. Die Temperaturen waren im Keller, die Stimmung aber nie! Meine Zeit im Studentenwohnheim hat mich viel über das Leben und die Gesellschaft in der Sowjetunion gelehrt, ist doch so ein Wohnheim im Prinzip mit einer Petersburger Kommunalka zu vergleichen, einer großen Gemeinschaftswohnung nach gutem sozialistischen Vorbild.

Dinge, die wir im Westen schätzen, wie Privatsphäre und Komfort, wurden eingetauscht gegen Genügsamkeit, Improvisationstalent, Herzlichkeit, Gemeinschaft und Nähe. Die Gesetze waren streng, aber bei den kleinen alltäglichen Grenzüberschreitungen schaute man gerne mal weg. Das echte Leben spielte sich hier im Kleinen ab, ein Mikrokosmos des sowjetischen Lebens und ein Blick in eine eigentlich längst verschwundene Vergangenheit in dieser modernen Welt. Eine Zeit, die mich persönlich reicher gemacht hat und die ich nicht missen möchte.

Philipp Dippl

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