In Deutschland grassiert das Lottofieber. Fast jeder hofft auf einen Millionengewinn. In unserem zweiten DAZ-Deutschland-Knigge beschreibt Cornelia Riedel, wie die sonst so kopfgesteuerten Deutschen 45 Millionen Euro nachjagen. /Foto: Cornelia Riedel/

„Ich geh jetzt Lotto spielen“, sagt meine Kollegin. `Was, Du? Du spielst Lotto? Das ist doch was für Alte und Menschen, die jeden Sinn für die Realität verloren haben!`, möchte es mir entfleuchen. Das letzte Mal bewusst die Lottozahlen im Fernsehen geguckt, hab ich als Teenager mit meinen Großeltern!

Chance von 1 zu 140 Millionen

Doch dann entdeck´ auch ich sie überall – die magische 32! – 32 Millionen Euro sollen im Jackpot sein, das sind Säcke gefüllt mit fast sechs Milliarden Tenge, 47 Millionen US-Dollar in Koffern. Im Internet, in der Tageszeitung und beim Mittagessen in der Kantine – die 32 Mille sind in aller Munde. Von wegen, die realistischen kopfgesteuerten Deutschen! Ein Lottogewinn – und mag er noch so unwahrscheinlich sein – scheint selbst hart gesottene Realisten die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung vergessen zu lassen. Und: Auch mich erfasst es. Jahrelang habe ich alle vermeintlichen Gewinne im Briefkasten ignoriert, von der Traumreise über das Luxusauto bis zur lebenslangen Rente alle Werbemails und Gewinnverheißungen sofort in den Mülleimer befördert. Doch jetzt ist das irgendwie anders. Der Lottogewinn ist der größte, der höchste, der unbeschreiblich umfangreichste, den die deutsche Glücksspielgeschichte je gesehen hat! „Weg aus den Gedanken mit den Regeln der Wahrscheinlichkeit und der ach so unmöglichen Chance von 1 zu 140 Millionen“, mögen sich die Deutschen denken. Und auch ich beginne ein wenig zu überlegen, wohin mit all dem Geld, wenn ich es denn gewinnen würde.

4938 Kindern in Afrika helfen

Überall wird man sowieso daran erinnert: Das Lottofieber geht quer durch Deutschland bis in die großen ernsten Medien: Die Süddeutsche Zeitung hat es für mich ausgerechnet: Elf Jahre lang könnte ich im Hotel Ritz in Paris in der Prestige Suite Impériale wohnen, oder Jennifer Lopez genau 85 Lieder lang für mich singen lassen, oder auch an Bord eines russischen Sojus-Raumschiffs von Baikonur aus ins All fliegen. Der Trip kostet nur schätzungsweise 17 Millionen Dollar, nehm´ ich eben im Notfall noch jemanden mit. Ein Tag Maybach inklusive Chauffeur und Sicherheitspersonal in Moskau schlägt mit umgerechnet 3900 Euro zu Buche, das wären laut Süddeutsche dann 22 Jahre lang Maybach fahren – falls ich keine anderen Wünsche habe. Immerhin hatte die Zeitung auch noch einen Vorschlag für den Nicht-Egoisten parat: Mit dem Geld könnte man sicherstellen, dass 4938 Kinder in armen Ländern satt werden, zur Schule gehen können und medizinisch versorgt werden – und zwar bis zum 18. Geburtstag.

Im Maybach herumfahren will ich nicht, Jennifer Lopez ist mir egal und auch der Flug von Baikonur gen Orbit verursacht bei mir eher Magenkrämpfe. Gar nicht denken möchte ich an all die Gruselgeschichten abgestürzter Lottogewinner, die ihre Millionen innerhalb kürzester Zeit rumgebracht haben und depressiv, ohne Freunde und meist ärmer als zuvor ihr trostloses Dasein fristen. Noch ein bisschen weiter treibt es die Internetseite des deutschen Magazins „Der Spiegel“: Dort wickelt man den Leser mit Tipps für den frischgebackenen Lotto-Millionär um den Finger – damit auch der letzte Skeptiker anfängt, ein bisschen zu träumen, wie es wäre wenn…

Noch ein Versuch

Drei Tage später ist der Jackpot immer noch nicht geknackt, aus der 32 ist eine 45 geworden und die Einsätze schnellen weiter in die Höhe. Der Traum von finanzieller Unabhängigkeit lockt selbst die sonst eher kühl kalkulierenden Deutschen. „Noch einen Versuch“, sag ich mir, verteile Geburtstage der Liebsten und Zufallszahlen über meinen Lottoschein und stell mir heimlich, still und leise vor, was ich so alles Feines mit dem Geld machen würde. Doch in der nächsten Runde steig ich aus: Beim Rekord-Jackpot von 45 Millionen Euro wird es mir zu blöd – zweimal nichts gewonnen, nicht mal den Spieleinsatz reingekriegt. Und jetzt sind sie weg, die Millionen. Gewonnen haben gleich mehrere Deutsche. Und unter den Glückszahlen sind zwei meiner Ziffern von letzter Woche, aber zum Glück eben nur zwei davon.

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Hintergrund: „Knigge“:

Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge, geboren 16. Oktober 1752 in Bredenbeck bei Hannover, war ein deutscher Schriftsteller, der die Ideen der Aufklärung vertrat. Bekannt wurde er vor allem durch seine Schrift „Über den Umgang mit Menschen“. Irrtümlicherweise wurde dieses Buch später als Benimmbuch missverstanden. Dieses Missverständnis verstärkte bereits der Verlag, indem er nach dem Tode von Knigge das Werk um Benimmregeln erweiterte. Heute steht Knigges Name in Deutschland als Eponym für Benimmratgeber, die mit Knigges eher soziologisch ausgerichtetem Werk allerdings nichts gemeinsam haben. (Wikipedia)

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Von Cornelia Riedel

07/12/07

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