Alfred Grosser beschreibt in seinem Buch „Wie anders ist Frankreich?” französische Besonderheiten und widmet sich dem Sprachbewußtsein des Nachbarlandes genauso wie den deutsch-französischen Beziehungen.

Nach den wochenlangen Unruhen in französischen Vorstädten hallt die Titelfrage des neuen Buches Alfred Grossers in einem neuen Echoraum: „Wie anders ist Frankreich?”, hat der Altmeister deutsch-französischer Verständigung seinen unterhaltsamen und zugleich ungemein lehrreichen Essay genannt.

Nachdem die internationale Presse über Wochen von Straßenschlachten und Brandstiftungen in Frankreich berichtete, hat diese Frage eine neue Bedeutung. Die Befürchtung, derartige Zustände könnten auch in Deutschland möglich sein, ist groß. Plötzlich hofft man regelrecht, Frankreich möge doch möglichst anders sein, denn dann würde verständlich, warum der Funke den Rhein bisher nicht übersprang und auch weiterhin nicht wird.

Alfred Grosser geht es jedoch um ein umfassenderes Bild des Nachbarlandes: Politik, Wirtschaft und Kultur werden jeweils mit historischer Tiefenschärfe in ihrer besonderen Ausprägung skizziert. In prägnanten Zusammenfassungen erhält der Leser einen Überblick über wichtige Debatten, die auch diejenigen, die sich für Frankreich interessieren, nicht immer selbst unmittelbar verfolgen können. Einen umsichtigeren Überblick kann man sich nicht wünschen.

Dass der Blick über den Rhein in Deutschland nach wie vor von besonderer Bedeutung ist, hat auch historische Gründe. Angela Merkels erster Staatsbesuch musste Paris gelten, alles andere wäre einem Bruch in der deutschen Außenpolitik gleichgekommen. Doch Deutschland und Frankreich sind nicht nur durch die Aussöhnung und die – nicht zuletzt europapolitische – Allianz verbunden. Auch auf kultureller Ebene orientiert man sich, wenn der Blick nicht gleich über den Atlantik geht, nach Frankreich.

Und in der Frage der Kulturpolitik stellt Alfred Grosser treffend dar, warum Frankreich nach wie vor von vielen Deutschen als Modell betrachtet wird. Vor allem das französische Sprachbewusstein lässt deutsche Kulturschaffende schwärmen. Während in Deutschland die Sprachverhunzung durch staatliche Deregulierung und beständig neue, immer wieder geschickt verwirrende Rechtschreibreformen systematisch gefördert wird, verteidigt man in Frankreich das Spracherbe in öffentlichen Diktatwettbewerben. An deutschen Universitäten werden immer mehr Studienfächer auf Englisch unterrichtet. Als akademische Sprache wird das Deutsche daher verarmen und in vielen Fächern völlig aussterben. Im Rahmen der Rationalisierung und Ökonomisierung ist dies ein politisch gewolltes Ziel. In einigen Fächern ist eine solche Anpassung an den Weltstandard wohl unumgänglich: Chemie wird im 21. Jahrhundert auf Englisch oder gar nicht betrieben. Frankreich führt vor, dass man wenigstens in den anderen Bereichen die Nationalsprache systematisch schützen kann – oder es zumindest versuchen sollte.

Doch auch Frankreich muss gegen den Verdacht ankämpfen, als Kulturnation auf den Hund gekommen zu sein. Längst diagnostiziert man auch in Frankreich selbst einen Trend, den man als „Amerikanisierung” beschreiben kann: die zunehmende Loslösung der Eliten von der breiten Bevölkerung, finanziell, aber eben auch und vor allem kulturell. Der große Graben zwischen kultureller haute cuisine und junk food reißt auch in Deutschland auf. Nicht immer verläuft dieser Graben so offensichtlich wie zwischen den Vorstädten und den feinen Vierteln der Pariser Innenstadt. Alfred Grossers Buch lädt dazu ein, über deutsch-französische Gemeinsamkeiten und Differenzen in dieser Entwicklung nachzudenken. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

Alfred Grosser: „Wie anders ist Frankreich?“, Verlag Beck, 2005.

09/12/05

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