In Deutschland wird gern reflektiert, abstrahiert und diskutiert. Da wird in Worten die Welt bewegt, die Geschichte zum x-ten Male analysiert und die Zukunft vorprogrammiert.

Diskutieren, das fördert den Geist, und mit Worten lassen sich Wettkämpfe ausfechten. Wozu das gut sein soll, fragen sich und fragen mich immer wieder Russen. Tja, schwer zu sagen. So wachsen wir eben auf. Das ist eben so. Und lassen können wir es sowieso nicht. Aber wenigstens macht es Spaß. Das finden die Russen gar nicht. Mit unserer Diskussionswut zerstören wir jede gute Stimmung am Lagerfeuer und auf Partys, finden die Russen. Wir selbst nennen es lieber Diskussionskultur, und wenn wir am Lagerfeuer und auf Partys nicht diskutieren dürfen, dann fehlt uns was.

Diskutieren ist wichtig, habe ich meinem Freund Dima versucht zu erklären. Warum, wollte er wissen. Damit man die Zusammenhänge besser versteht, erklärte ich. Das will er aber bis heute nicht einsehen. Eines ist zumindest richtig. Schlauer als Dima bin ich nicht – auch wenn ich mein Leben lang diskutiert habe. Schon im Kindesalter lernen wir es – das Hinterfragen aller Dinge, die uns passieren. Und was uns nicht passiert, das wollen wir genauso ergründen. Dima will nicht mit mir diskutieren. Diskutieren heißt nicht Streiten, erkläre ich ihm. Trotzdem will er das nicht. In Deutschland kann ich mich mit Freunden in heftigen Diskussionen verstricken, ein „Aber“ löst das nächste ab, Argumente gibt es genug, man muss sie nur rhetorisch geschickt aneinander ketten. Wir werden uns einig oder auch nicht. Schlauer oder auch nicht. Aber danach sind wir genauso Freunde wie zuvor. Dabei habe ich in Russland auch Diskussionen erlebt. Wenn auch anders. In erster Linie kürzer. Und wenn es doch mal im Ansatz zu heftig zugehen sollte, wird gekonnt eine schnelle Anekdote eingeflochten, die dann wieder zu guter Stimmung verhilft.

Wem Deutsche zu viel diskutieren, der sollte sich mal Diskussionsrunden in Frankreich ansehen. Da kommen wir Deutsche allemal nicht mit. Da wird mit Worten gefochten, was das Zeug hält. In höchsten Emotionen. Alle reden gleichzeitig, jeder unterbricht jeden. Da würde auch ich den Spaß verlieren. In Wladiwostok habe ich versucht, einen Diskussions-Club zu gründen. Mir wurde vorsichtig vermittelt, dass man in Russland nicht gerne diskutiert. Ich versuchte es trotzdem und wollte darüber diskutieren, warum man in Russland nicht gerne diskutiert. Aber wenn man nicht gern diskutiert, will man auch nicht diskutieren, warum man nicht gern diskutiert, und da beißt sich die Katze in den Schwanz. Und meine Frage bleibt ungeklärt. Und da sind wir wieder beim Ausgangspunkt – dass der Deutsche alles klären will – und am liebsten durch Diskussion. A propos ungeklärt, jetzt habe ich viel über das Diskutieren argumentiert, aber was daran so wichtig ist, habe ich nicht herausgefunden. Gezeigt hat sich aber – Diskutieren können wir notfalls auch mit uns selbst, wenn kein Diskussionspartner zur Verfügung steht – auf dem Papier. Und Papier ist bekanntlich geduldig.

Von Julia Siebert

02/06/06

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