DAZ veröffentlicht die besten Arbeiten des Sprachwettbewerbs „Deutsch in meinem Heimatort“. Heute stellen wir die Geschichte von Nelly Krutsch vor.
Ich wohne in Nordkasachstan. Alle meine acht Geschwister und ich sind Deutsche. Auch mein Vater und meine Großeltern und Urgroßeltern sind und waren Deutsche. Vor drei Jahren habe ich mit meinem Vater das Buch „Die Geschichte der Deutschen in Russland“ gelesen. Das Buch hat mich sehr beeindruckt. Damals hatte ich viele Fragen. Den ganzen Abend habe ich mit meinem Vater darüber gesprochen. Dank ihm kenne ich jetzt die Geschichte der Familie Krutsch.

Nelly: Wir sind Deutsche, leben aber in Nordkasachstan. Woher stammten unsere Vorfahren?

Vater: Ja, mein Kind, das Schicksal unserer Vorfahren ist interessant und tragisch zugleich. Die Vorfahren meines Vaters kamen in den Jahren 1760-1770 aus Deutschland, dem Lande Hessen, nach Russland. Die Familie meines Großvaters lebte viele Jahre im Dorf Stahl an der Wolga. Es gab an der Wolga viele deutsche Kolonien, und die Menschen hießen Kolonisten. Die Familie lebte gut, war nicht arm und hatte viele Kinder.

Erzähl mir über meinen Uropa David und seine Familie. War er Heinrichs Sohn?

Gewiss. Meine Eltern erzählten mir über ihn und über sein Leben. Er wurde im Jahre 1901 auch im Dorf Stahl geboren. Seine Familie war groß, lebte zufrieden, hatte ein eigenes Haus mit einem großen Obstgarten und einem Bauernhof. Die deutschen Sitten und Bräuche waren seiner Familie nicht fremd. Nach der Oktoberrevolution 1917 arbeitete er auf dem Lande. 1922 heiratete er, seine Frau hieß Dorothea. Die Kinder des Ehepaares waren seine einzige Freude. Das erste Kind, eine Tochter, wurde ebenfalls Dorothea zu Ehren der Mutter genannt. Das zweite Kind, David, war mein Vater, der auch nach seinem Vater benannt wurde. In der Familie wurden noch fünf weitere Kinder geboren. Das war eine große, einträchtige und arbeitsame Familie.

Was geschah weiter?

Die Zeit verging schnell, die Kinder wuchsen heran, halfen den Eltern, besuchten die Schule. In den Schulen wurde in deutscher Muttersprache unterrichtet. Die Familie pflegte deutsche Sitten und Bräuche. Aber im 1941 kam der Krieg und alles hat sich jäh verändert. Dein Uropa musste in die Trudarmee nach Tscheljabinsk. Dort arbeitete er schwer in einem Stahlwerk.

Was passierte mit seiner Familie?

Am 28. August 1941 wurde der Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Aussiedlung der Deutschen aus den Bezirken des Wolgagebiets“ verabschiedet. Gemäß diesem Dokument wurde die gesamte deutschstämmige Bevölkerung nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien umgesiedelt.

Wofür, Vati? Uropa war doch ein Kolchosbauer und kein Spion! Und seine kleinen Kinder waren auch keine Diversanten!

Das stimmt. Es war nun mal eine schreckliche Zeit nicht nur für unsere Familie Krutsch, sondern auch für viele andere Deutsche auch. Die schwangere Dorothea wurde am 15. September 1941 mit ihren sieben Kindern, warmer Kleidung und Essen im Militärzug 796 nach Petropawlowsk gebracht. Das Leben in Nordkasachstan im Aul Botai war fürchterlich, es waren harte Kriegsjahre. Keine Nachricht kam vom Großvater David, der Tag und Nacht schwere und harte Arbeit verrichtete. Hunger und Krankheiten quälten die Kinder… Das alles begleitete die Familie Krutsch. In Petropawlowsk wurde das jüngste Kind der Eheleute Krutsch, Ernst, geboren. 1942 starb die Mutter Dorothea. Die ältere Tochter wurde in die Trudarmee geschickt. Und mein Vater David, der damals 16 war, war nun der Älteste in der Familie. Zuerst wohnten die Kinder bei der kasachischen Familie Salikow. Später, 1943, bauten sie sich eine Erdhütte. Mit zehn Jahren arbeiteten alle Kinder bereits in der Kolchose. Um den kleinen Ernst zu stillen, arbeitete David in den kasachischen Familien, von denen er als Lohn Muttermilch von den kasachischen Frauen bekam…

Аrmes Kind! Und mein Opa war ein richtiger Mann!

Nach dem Krieg wurde das Leben ein bisschen leichter. 1948 heiratete David ein hübsches deutsches Mädchen namens Gertrud. Sie hatten fünf Kinder. Das dritte Kind bin ich – dein Vater Theodor. Davids jüngere Geschwister wuchsen heran, erlernten Berufe, arbeiteten und gründeten eigene Familien. Dein Opa war einer der ersten Traktoristen während der Neulanderschließung und arbeitete auch viel und gewissenhaft als Mechaniker. Für seine Arbeit wurde er mit einem Orden ausgezeichnet.

Das weiß ich. Ich weiß auch, dass mein Opa ein verdienter Mechaniker Kasachstans ist und bin stolz auf ihn. Aber ich denke noch immer an David den Älteren, meinen Uropa. Weißt du etwas über ihn?

48 Jahre lang wusste unsere Familie nicht, wo unser Großvater sich aufhielt und was mit ihm passiert war. Erst im Jahre 1989 erhielt mein Vater einen Bescheid der Staatsanwaltschaft des Gebiets Tscheljabinsk, dass David Heinrichowitsch Krutsch am 21. Juni 1942 verhaftet worden war und laut der Verordnung der Sonderberatung beim Volkskomitee für Inneres der UdSSR vom 14. Oktober 1942 wegen konterrevolutionärer Tätigkeit zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Der Befehl wurde am 28. Oktober 1942 in Tscheljabinsk ausgeführt.

Ich glaube nicht daran. Mein Uropa ist kein Konterrevolutionär!

Du hast recht. 1963 wurde er rehabilitiert und ist somit schuldfrei. Aber das haben wir erst im Jahre 1989 erfahren.
Unser gegenwärtiges Leben verändert sich laufend.
Alle unsere Verwandten, meine Eltern, Geschwister, zahlreiche Tanten und Onkel, Nichten und Neffen leben bereits seit den 90er Jahren in Deutschland. Unser Opa ist schon nicht mehr am Leben. Sehr gern reise ich jedes Mal nach Deutschland, um meine Verwandten zu besuchen. Aber es zieht mich stets wieder nach Kasachstan zurück. Hier ist meine Heimat, mein Haus, meine Familie, alle meine neun Kinder, meine liebe Frau, deine Mutter, Tatjana. Hier ist meine Arbeit. Hier ist mir alles lieb und vertraut.

Lieber Vati, jetzt kenne ich die Geschichte unserer Familie Krutsch ganz genau!

Die Seiten dieser Geschichte sind voll Tragik, Trennungen, Tränen, Liebe und Tod. Aber das Leben geht weiter. Ich werde unsere Geschichte mit Stolz meinen Kindern weitererzählen.

Von Nelly Krutsch und Larissa Trofimowa

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