Jakob Adolfowitsch Hermann lebt in einem kleinen Dorf in den tadschikischen Bergen. Der 68-Jährige ist als einziger Deutschstämmiger dageblieben, als seine Verwandten und Bekannten während des Bürgerkriegs Mitte der 90er Jahre das Land verließen.

Ein Sandsturm fegt bei knapp 40 Grad über die weite Ebene des Wachschtals im Süden Tadschikistans. Melonen, die zum Verkauf stehen, dekorieren die Straßenränder, während die jungen Verkäufer in den Bewässerungskanälen nebenan Abkühlung suchen. Auf der welligen Straße in den Landkreis Kumsangir. Noch ein paar Windungen über kahle Hügel, dann kommt der Pjandsch, der größte Quellfluss des Amu-Darja, in Sicht und am anderen Ufer breitet sich Afghanistan aus. Kunduz liegt keine 70 Kilometer von hier entfernt. Eine amerikanische Brücke wird gerade gebaut, aber derzeit kämpft sich noch eine altersmüde sowjetische Fähre über den Fluss, die hin und wieder aus den Führungsseilen springt.

Ankunft in Nischni Pjandsch, Unterer Pjandsch, ein 30-Seelen Dorf am Rande der Zivilisation könnte man meinen, aber gleichzeitig der wichtigste Grenzübergang zwischen Tadschikistan und Afghanistan. Es ist Mittag geworden, und es wird Zeit, sich unter einen Maulbeerbaum zu legen, eine Melone zu verspeisen und auszuspannen. Einige ortsansässige Tadschiken, Taxifahrer aus Duschanbe und afghanische LKW-Fahrer liegen bereits, spielen ein paar Runden Nardy (Backgammon), nehmen einen Tee zu sich und warten auf irgendetwas, dass ein Nichteingeweihter nur schwer ergründen kann. Ein Gespräch entbrennt mit der Männergruppe, und es dauert nur wenige Momente, bis der Besitzer des Backgammonspiels, ein älterer sonnengebräunter Herr mit starker Brille, herangerufen wird und neben mir auf der Decke Platz nimmt.

„Bis du och Dütscher?“, schallt es mit kräftigem Ton in die Mittagslethargie an der afghanischen Grenze. Es ist der 68-jährige Jakob Adolfowitsch Hermann, der sich an meiner Seite niedergelassen hat. Er lebt schon seit 41 Jahren hier, erzählt er in beeindruckendem Deutsch und fügt hinzu, dass er hier auch schon geboren wurde.

Seine Eltern sind bereits 1936 gemeinsam mit vielen anderen Deutschen von der Wolga hierher umgesiedelt worden. Als sie ankamen, gab es in dieser Gegend so gut wie gar nichts. Die Rote Armee hatte in den 1920er Jahren die antisowjetische Widerstandsbewegung niedergeschlagen, und übrig geblieben war Brachland. Der Kreis Kumsangir und die benachbarten Kreise Kolchosabad und Wachsch wurden hauptsächlich in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Wolgadeutschen besiedelt, die ähnlich wie in Kasachstan oder in Sibirien von Null anfingen, das Land urbar zu machen, und ein neues Leben begannen. Später kamen noch Umsiedler aus Berggebieten der Tadschikischen SSR hinzu, um die Baumwollwirtschaft in den wenigen für den Landbau geeigneten Gebieten Tadschikistans voranzutreiben. „In den 1970er und 1980er Jahren machten die Deutschen 48 Prozent der Bewohner im Landkreis aus“, erzählt Hermann.

Ob er mit nach Duschanbe kommen will, ruft ein Taxifahrer aus seinem Auto Jakob zu. „Wenn ich jünger wäre, würde ich sofort einsteigen, um mal etwas zu erleben“, erwidert der Deutschstämmige. Immerhin bringe er es auf sechs Kinder aus zwei Ehen. Sein Nachbar auf der Decke stichelt noch etwas und fragt, ob denn sein usbekischer Sohn nicht zählen würde. Jakob erwidert verschmitzt, die junge Usbekin sei ihm nachgelaufen, er hätte ja damals auch einfach gut ausgesehen. Nach seiner ersten gescheiterten Ehe kam er nach Nischni Pjandsch, weil er eine Arbeit als Fahrer für das Handelskontor gefunden hatte. Wie es der Zufall wollte, lernte er dabei seine zweite Frau Lilja, eine Russin, kennen – die Chefin des Handelskontors. Später arbeitete er als stellvertretender Direktor des Öllagers und im Bauamt.

Heute ist er der einzige verbliebene Deutsche im Dorf, und im Kreiszentrum gibt es auch nur noch ein paar wenige Alte.

Mit dem Beginn des Bürgerkrieges in Tadschikistan Anfang der 1990er Jahre sind alle Deutschen mit Bussen nach Duschanbe geflohen, auch seine Verwandten. Von da ging es weiter nach Deutschland. Er greift nach einer kleinen Deutschlandkarte, die ihm sein Bruder Alexander, der jetzt in Krummennaab/Oberpfalz lebt, geschickt hat, auf der alle Verwandten deutschlandweit akribisch eingezeichnet sind.

Ihn hat das Schicksal hier behalten, denn die Straße zum Landkreiszentrum war zu dieser Zeit bereits stark umkämpft, ein Entkommen unmöglich. Sein tadschikischer Deckennachbar fügt hinzu, dass er selbst mit seiner Familie über den Fluss nach Afghanistan geflohen ist. Drei Jahre haben sie dort gelebt, bis sie wieder zurückgekommen sind. Andere sind in die Berge geflohen. Jakob selbst will nicht mehr zurück ins Kreiszentrum. Dort würden jetzt die zugezogenen Gewinner des Bürgerkrieges regieren und in den Häusern der Deutschen leben, die geflohen sind. „Die will ich nicht sehen, nach alledem was passiert ist“, sagt Jakob Hermann. „Mit ‚unseren’ Tadschiken, mit denen ich schon seit meiner Kindheit Tür an Tür wohne, haben wir dagegen schon immer friedlich gelebt.“

Inzwischen hat er mich vorbei am Zollamt zu seinem für die Gegend untypischen holzvertäfelten Haus geführt. Wir sitzen unter den reifenden Weintraubenstauden mit Blick auf den blühenden Garten. Er vermietet die Hälfte seines Hauses an die Männer vom Zoll, die sich darin eine Kantine eingerichtet haben. Dafür bekommen seine Frau und er 200 Somoni (43 Euro) im Monat. Das reicht für Lebensmittel. Mit den 60 Somoni (14 Euro) Rente, die sie beide zusammen erhalten, könnten sie nur schwerlich überleben.

Im Jahr 2003 hat er für drei Monate seine Verwandten in Deutschland besucht, doch leben möchte er dort nicht – „Die Dütschen da hab’n and’re Köppe“, sagt er. Seine eigenen Kinder sind inzwischen alle ausgewandert, entweder nach Russland, Weißrussland oder in die Ukraine. Natürlich überlegt er mit seiner Frau, selbst dorthin auszuwandern. Da sei man auch näher an Deutschland und könnte sich von Zeit zu Zeit sehen. Das ist jedoch allerdings noch Zukunftsmusik. An diesem Abend wird Jakob Hermann wie an jedem Abend vor dem Einschlafen mit sich selbst auf Deutsch sprechen, gegen das Vergessen der Muttersprache – nur einen Steinwurf von Afghanistan entfernt.

Von Michael Angermann

31/08/07

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