Durch Investitionen in Nahrungsmittelsicherheit, Militär oder Geschäfte aller Art spielt Deutschland eine führende Rolle im postsowjetischen Raum und in Usbekistan. Novastan.org hat mit dem usbekischen Politikwissenschaftler Rafael Sattarow über die aktuelle Lage gesprochen. Wir übernehmen das Interview mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Deutschland hat einen besonderen Platz im Herzen der usbekischen Politiker. Beide Länder unterhalten seit mehreren Jahrzehnten vertrauensvolle Beziehungen mit starken wirtschaftlichen Bindungen. Der Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vom 27. bis 29. Mai, der erste eines westlichen Staatsoberhaupts in Usbekistan überhaupt, führte zur Unterzeichnung mehrerer Abkommen, und zur Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Um sich ein Bild der usbekisch-deutschen Beziehungen zu verschaffen, sprach Novastan.org am Telefon mit Rafael Sattarow, einem anerkannten usbekischen Analytiker.

Novastan: Der deutsche Präsident ist das erste westliche und europäische Staatsoberhaupt, das Usbekistan offiziell besucht. Wie erklären Sie das?

Rafael Sattarow: Auch wenn der Bundespräsident nicht der wichtigste Entscheider in Deutschland ist – er ist nicht Angela Merkel -, hat Frank-Walter Steinmeier nicht nur in Deutschland, sondern auch im Allgemeinen ein Gewicht. In einem paneuropäischen Kontext haben sicherlich sein Einfluss, seine Autorität oder seine Beziehungen zur deutschen Wirtschaft eine erhebliche Bedeutung. Dieser Besuch ist offensichtlich sehr wichtig für Usbekistan. Solche Gäste kommen nicht jedes Jahr.

Das Interessante an diesem Besuch ist, dass ungeachtet der Einstellung zum usbekischen Regime jeder etwas davon haben kann. Zum Beispiel versuchten Gegner des Regimes, ihre Anliegen über Frank-Walter Steinmeier an den Präsidenten Usbekistans zu bringen. Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Repräsentanten der usbekischen Zivilgesellschaft haben eine Petition an den deutschen Präsidenten gerichtet, mit der Bitte, das Thema (Menschenrechte, Anm. d. Red.) gegenüber dem usbekischen Präsidenten zu erwähnen. Also ja, dieser Besuch ist sehr wichtig, nicht nur für die Behörden, sondern auch für die Zivilgesellschaft und die Oppositionnellen.

Der zweite Punkt ist, dass Deutschland bei aller Berücksichtigung der Zivilgesellschaft, den Ernst der Lage stets begriffen hat, und zu den Rechtsverletzungen seitens des Regimes immer mehr oder weniger ein Auge zugedrückt hat. Als heute die neue Strategie der Europäischen Union zur Förderung der Demokratie und der interregionalen Zusammenarbeit erörtert wurde, hat Deutschland mehr Druck ausgeübt als Großbritannien. Berlin verfügte über eine Militärbasis in Usbekistan, was das Interesse der deutschen Wirtschaft an Usbekistan steigerte.

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Deutschland und Usbekistan pflegen eine innige Beziehung seit mehreren Jahren.

Anders als Deutschland, das sich von siner pragmatischen Seite gezeigt hat, propagierte Usbekistan zur Zeit Karimows (der erste usbekische Präsident) allerlei Unsinn über eine vermeintliche „deutsche Finanzierung“ einer Farbenrevolution. In Wirklichkeit existierte diese nicht: Deutschland hatte kein Interesse daran, irgendeine Art von Farbrevolution zu unterstützen, insbesondere in Usbekistan.

Alles war in Ordnung: Die Führungseliten Usbekistans respektierten Deutschland, waren an einer Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert. Ihre Kinder lebten dort, einige von ihnen hatten dort Immobilien, schmutziges Geld wurde da gewaschen, und vor allem gab es die Militärbasis. So versteht man, dass Deutschland im europäischen Vergleich längst eine führende Position im postsowjetischen Raum eingenommen hat. Diese Führung – obwohl umstritten – bleibt erhalten. Denn Deutschland war für die usbekische Intelligenzia schon immer ein Bildungszentrum. Seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert reiste die Jugend von Turkestan nach Deutschland um zu studieren, Nicht nach Frankreich oder anderswo. Deutschland ist immer das bevorzugte Ziel geblieben.

Ich denke, dass in Zukunft zwei Länder mit Deutschland im postsowjetischen Raum konkurrieren können: Ungarn und Polen. Derzeit ist die Zahl der Studenten aus Zentralasien, insbesondere aus Usbekistan, in Polen und Ungarn erheblich gestiegen. Die ungarische Regierung teilt direkt Geld zu. Es ist auch überraschend, dass Viktor Orban rechtsextrem ist, seine Regierung aber Mittel für die Bildung von zentralasiatischen Jugendlichen auf ihrem Territorium zur Verfügung stellt. Viktor Orban selbst nimmt bereits an allen Arten von Nomadenfestivals teil.

Es zeichnet sich bereits ein Wettbewerb ab. Deutschland verteidigt die Werte der Demokratie gegen Ungarn oder Polen, die sagen: „Wir schützen das säkulare System in den Ländern Zentralasiens unter Auflagen, egal unter welchem Regime. Solange dieses laizistisch ausgrichtet ist, zählt es zu unseren Partnern.“ Das heißt, sie werden problematische Regimes unterstützen und Deutschland wird die Probleme der Werte (Menschenrechte, Demokratie) stärker in den Vordergrund stellen. Ich denke, dieser Faktor wird ins Spiel kommen, da Deutschland und Ungarn beide an der Geschäftsentwicklung interessiert sind. Ihre Volkswirtschaften wachsen schnell und ihre Ambitionen wachsen entsprechend. Es ist ein natürliches Phänomen.

Der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew wählte Frankreich als erstes europäisches Reiseziel, aber es ist der deutsche Präsident, der in Usbekistan an erster Stelle steht. Warum?

Es hat überhaupt nichts zu bedeuten. Dies kann einfach auf Protokollfakten oder einfach auf Zeitmangel zurückzuführen sein. Im vergangenen Oktober hatten die deutschen Politiker keine Zeit, unter anderem wegen der Wahlen. Generell denke ich, dass die Besuche in Frankreich und Kanada oder jener des deutschen Präsidenten in Usbekistan dadurch ermöglicht wurden, dass der usbekische Präsident zum ersten Mal im Weißen Haus in Washington empfangen wurde. Der letzte Besuch eines usbekischen Präsidenten in den Vereinigten Staaten geht auf das Jahr 2002 zurück. Der Zweck dieses Besuchs war hauptsächlich und einfach ein „Händedruck“, so dass das neue usbekische Establishment zeigt, dass sie nicht mit Andischan (einem Massaker an Zivilisten 2005) in Verbindung stehen, dass sie nicht mit der Zeit des Islam Karimow verbunden sind.

Der Besuch in Washington ermöglichte dem usbekischen Präsidenten den Besuch in europäischen Ländern, die nun Willens waren, ihre Türen zu öffnen. Daher denke ich nicht, dass Usbekistan sich eher für Deutschland oder für Frankreich entscheidet. Für Usbekistan ist heute alles wichtig. Da ist jeder, der Geld gibt, auch wenn es nicht viel ist, willkommen.
Eine andere Antwort wäre, nach der Zahl deutscher und französischer Unternehmen in Usbekistan zu schauen. Es gibt keine Übereinstimmung. Deutschland liegt weit vorne, ebenso im Bezug auf Russland, zu dem es ein Handelsvolumen in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar gibt. Demgegenüber steht Frankreich mit 600 Millionen US-Dollar. Diese Zahl erklärt weitgehend die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Nicht weil Putin die deutsche Sprache und die deutsche Kultur mag, sondern wegen dieses Wirtschaftsfaktors.

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Die gleiche Beziehung besteht in Usbekistan. In dieser Hinsicht verfügt Präsident Macron nicht über ein solches Programm zur Entwicklung der wirtschaftlichen Expansion französischer Unternehmen in Usbekistan oder im übrigen postsowjetischen Raum. Zur Zeit sind deutsche Unternehmen daran interessiert, ihre Produkte zu exportieren und zu expandieren. Wenn diese Unternehmen wachsen, brauchen sie neue geografische Gebiete. Natürlich bergen sie keine illusorischen Hoffnungen, aber sie können ihr Geschäft weiter ausbauen, und warum nicht auf einem Markt mit einer derart hohen Bevölkerungsdichte wie Usbekistan? Unabhängig davon, ob es sich um Sicherheitsprobleme, Probleme der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit oder im Bildungsbereich handelt, spielen die Deutschen eine wichtige Rolle.

In Usbekistan stehen Studenten der Irrigation University an erster Stelle unter denjenigen in Usbekistan, die Stipendien für ein Studium an deutschen Universitäten erhalten. Diese Menschen, die sich für die Verbesserung der Landwirtschaft einsetzen, werden in Deutschland in großen landwirtschaftlichen Betrieben ausgebildet. Deutschland will Ernährungssicherheit in Usbekistan gewährleisten. Es ist etwas Einzigartiges gegenüber anderen europäischen Staaten. Daher gibt es viele Faktoren, die Frankreich nicht hat. Frankreich hat ein Institut (die Alliance Française), In dem es viele Studenten gibt, aber nur in Taschkent. Einige Unternehmen, wie PSA, haben angekündigt, ihre Türen in Usbekistan zu öffnen, aber dies ist immer noch nicht der Fall. Tatsächlich hat Frankreich kein Interesse oder wirtschaftliches Bedürfnis. Derzeit gibt es auf französischer Seite kein Bewusstsein oder Verständnis für diesen Vorteil.

Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen dieses Besuchs des deutschen Präsidenten?

Der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew (Mitte) tut alles, um sein Land den ausländischen Investoren zu öffnen.

Ich möchte nur sagen, dass der Besuch nicht nur in offiziellen Kreisen stattgefunden hat. Der deutsche Präsident traf sich mit den wichtigsten unabhängigen Reformenbefürwortern, dem einflussreichen Ökonomen Julij Jussupow, sowie Vertretern der Zivilgesellschaft. Nicht nur die offiziellen Vertreter Usbekistans trafen sich mit ihm, sondern Frank-Walter Steinmeier traf sich auch mit prominenten, vielversprechenden Fachleuten, die sich ständig für eine Staats- und Verwaltungsreform einsetzen, aktiv gegen Korruption vorgehen und echte wirtschaftliche Maßnahmen vorschlagen.

Die Tatsache, dass Aziza Umarowa sowie Julij Jussupow und viele andere ihrer Kollegen an den Treffen teilgenommen haben, hat ebenfalls eine starke Bedeutung. Mit anderen Worten, der Bundespräsident erhält während seines Besuchs während des Mittag- und Abendessens Informationen aus verschiedenen Quellen. Wichtig ist auch, dass er sich nicht nur mit den Berichten unserer Regierung ein Bild von der realen Situation in Usbekistan gemacht hat. In dieser Hinsicht ja: Es ist eine sehr umfassende Tour, die allen passt – dem Regime und den Vertetern der Zivilgesellschaft.

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Auf Steinmeiers Besuch folgt der von Donald Tusk, um die neue europäische Strategie in Zentralasien vorzustellen: Ist dies eine koordinierte europäische Offensive in Zentralasien?

Ich studiere diese Strategie jetzt und bemerke, dass sich nichts so drastisch geändert hat, dass wir sagen können: „Ja, es unterscheidet sich sehr von früheren Strategien!“ Seit dem Tod von Islam Karimow (im September 2016) ist es möglich, das Thema neu zu betrachten und Beziehungen aufzubauen. Die Türen für die internationale Zusammenarbeit zu öffnen ist eine gute Sache, es ist sogar eine Chance für Usbekistan, zumindest in den Köpfen, wenn die Kommunikation mit ihnen etwas ändert. Die EU-Strategie sollte sich jedoch mehr auf die sozioökonomischen Aspekte als auf die Aspekte der diplomatischen und regionalen Zusammenarbeit in Zentralasien konzentrieren. Wenn wir in der Region Fortschritte erzielen wollen, sollten wir uns auf konkrete Projekte in den Bereichen Landwirtschaft oder Ernährungssicherheit fokussieren.

Dies kann die Dinge schwieriger machen, es können Probleme entstehen, die das Regime nicht bewältigen kann. Und früher oder später wird Europa immer noch diese Probleme haben, wegen der Flüchtlinge der einen oder anderen Art. Im Moment können wir was Ernährungssicherheit betrifft, feststellen, dass zum Beispiel in Tadschikistan viele Menschen kein Fleisch, keine Proteine essen, und dass die Kindersterblichkeit steigt. Dies ist auf eine geringere Landbewässerung und eine erhebliche Migration nach Russland zurückzuführen, was die Gefahr einer Instabilität in hohem Maße verschärft. Die Regierungen finden leider keine Antworten darauf. Bisher wurde solchen Problemen kaum Beachtung geschenkt. Sie gebrauchen vielmehr Slogans, die auf beiden Seiten wiederholt werden: Die Regierung „freut“ sich ständig über Neuerungen; die andere Seite wiederholt aber ständig solche theoretischen Gedanken, die in Büchern und Lehrbüchern niedergeschrieben sind. Zumindest müssen wir diese Probleme lösen, ohne auf politische Widersprüche zu achten. Denn morgen wird es eine sehr schlechte Situation in Zentralasien geben und wird sich Europa weiterhin mit diesen Problemen befassen müssen. Es ist besser, sie konkret zu lösen.

Aus dem Französischen von Arnaud Enderlin

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