Ein Gespräch mit der Usbekistan-Spezialistin Andrea Berg über die sozialen und politischen Hintergründe der Ereignisse von Andischan

DAZ: Erst Kirgisistan, nun Usbekistan. Gibt es eine Gesetzmäßigkeit der Revolutionen in Zentralasien, oder müssen mehr usbekische Spezifika in Betracht gezogen werden?

Andrea Berg: Ich denke, dass wir weder in Kirgisistan noch in Usbekistan überhaupt von einer Revolution sprechen können. Anders als beim Machtwechsel in Georgien und in der Ukraine – die jeweils mit klarem Symbol und charismatischem Oppositionsführer erfolgten, war in Kirgisistan die Verwirrung über Zeichen und Farbe des Umsturzes symptomatisch: für das Misstrauen zwischen Bevölkerung und Opposition sowie für die Uneinigkeit innerhalb der Opposition, die in mehr als 40 stark personalisierte Parteien zerfällt. Es ging und geht weniger um einen politischen Richtungswechsel, als um einen Machtwechsel innerhalb der Eliten. Die Bevölkerung wird dabei in hohem Maße instrumentalisiert.

Zwar waren Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen am 27. Februar und 13. März 2005 der Auslöser für die Demonstrationen in Südkirgisistan, die Ursache aber ist die wirtschaftliche und politische Isolation des Südens. Auch im usbekischen Andischan ging die Bevölkerung auf die Strasse, weil sie nichts mehr zu verlieren hatte, in den letzten Jahren systematisch von ihrer Regierung ausgegrenzt worden war und auf keinerlei Rechtsstaatlichkeit vertrauen konnte.

DAZ: Wie muss man sich in Usbekistan die Clanstrukturen und Machtverteilung der Eliten vorstellen?

Berg: In Usbekistan spielt regionale Identität eine wichtige Rolle. Die einflussreichsten Regionen sind Samarkand und Taschkent, gefolgt vom Ferghana-Tal und Buchara. Vertreter der mächtigen Familien aus diesen Regionen sind in der Verwaltung Karimows vertreten und bekleiden hohe Regierungsposten. Der äußerste Westen – Chiwa und Karakalpakstan – sowie der äußerste Süden – Kaschkadarja und Surchandarja – haben kaum politisches und wirtschaftliches Gewicht.

DAZ: Das Ferghana-Tal birgt besonderen sozialen und religiösen Zündstoff, heißt es. Einige sehen in ihm sogar ein Reservoir von Terroristen…

Berg: Das Ferghana-Tal erstreckt sich über die Territorien von Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Als dicht besiedeldste Region Zentralasiens hat die Bevölkerung hier mehr als anderswo unter den willkürlichen Grenzschließungen, der Abgeschnittenheit von den jeweiligen nationalen Wirtschaftszentren und fehlender Infrastruktur zu leiden.

Im usbekischen Teil des Ferghana-Tals leiden insbesondere die Bauern unter der staatlichen Planwirtschaft, die sie weiterhin zwingt, Baumwolle statt dringend benötigter Kulturen wie Weizen, Reis oder Gemüse anzubauen. Taschkent, ein potentieller Absatzmarkt für diverse Produkte, ist nur über einen hohen Pass und nach stundenlanger Autofahrt zu erreichen. Zu den Märkten auf der kirgisischen und tadschikischen Seite gelangen die Händler nur mit Schwierigkeiten: Entweder sie setzen sich den Gefahren des illegalen Grenzübertritts aus oder sie beteiligen die Grenzbeamten an ihren Geschäften.

Das Zusammenleben der Menschen im Ferghana-Tal wird von den Regierungen aller drei Länder, insbesondere aber von usbekischer Seite, systematisch erschwert und gestört und die Lage damit unnötig angeheizt.

DAZ: Karimow gibt der Islamistenbewegung Akryma die Schuld an den Toten von Andischan. Wie wahrscheinlich ist ein systematisch organisierter Aufstand von Islamisten?

Berg: Obwohl Usbekistan offiziell eine Republik ist, ist die Position des Präsidenten innerhalb des Machtapparates dominant. Gewaltenteilung existiert nur formal. Karimow inszeniert sich als Vater der Nation und regiert das Land mit Hilfe von persönlichen Erlassen. Die Position des Parlaments ist schwach, seine Mitglieder sind Vertreter regierungsnaher Parteien und der Verwaltung. Um sicherzustellen, dass nur regimetreue Parteien an den Wahlen teilnehmen können, wurde Anfang 2004 die Anzahl der benötigten Unterschriften zur Registrierung einer politischen Partei von 5.000 auf 20.000 erhöht. Die wenigen außerparlamentarischen oppositionellen Gruppen und Bewegungen sind untereinander zerstritten, ihre Führung ist zum Teil im Ausland.

Durch diese Gleichschaltung der säkularen Parteien im Parlament und die Zersplitterung der säkularen oppositionellen Bewegungen besteht die heutige Opposition in Usbekistan vor allem aus illegalen islamistischen Gruppen. Die beiden wichtigsten sind die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU) und Hizb-ut-Tahrir. Während die IBU vor allem Ende der Ende der 90er Jahre durch Geiselnahmen, bewaffnete Überfälle und Zusammenarbeit mit den Taliban in Afghanistan von sich reden machte, ist die Hizb-ut-Tahrir offiziell gewaltfrei. Sie tritt für die Errichtung eines Kalifats ein, in dem bestehende soziale Probleme wie Armut und Korruption durch islamische Rechtsprechung gelöst werden sollen.

DAZ: Wie groß ist die Reichweite von Hizb-ut-Tahrir?

Berg: Nach Einschätzung von Experten beläuft sich die Mitgliederzahl der Hizb-ut-Tahrir in Zentralasien auf mehrere Tausend. Wie Interviews mit Mitgliedern der Organisation zeigen, sehen viele junge Menschen in ihr die einzige Möglichkeit, politisch ihren Willen zu bekunden und ihre Unzufriedenheit mit der sozialen Lage in Usbekistan und dem Regime Karimows zu äußern. Die Regierung wiederum benutzt Hizb-ut-Tahrir ebenso wie die IBU als „Schreckgespenst“ und Sinnbild für islamistischen Terror und legitimiert ihre Repressionspolitik mit Verweis auf die „Zustände“ in Tadschikistan und Afghanistan.

DAZ: Kann sie dabei auf konkrete Ereignisse verweisen?

Berg: Bereits in den 1990er Jahren kam es im usbekischen Teil des traditionell religiösen Ferghana-Tals immer wieder zu Unruhen. In den Jahren 1997/1998 wurden in Namangan mehrere Angehörige der Miliz umgebracht. Die Antwort der Regierung war eine Verhaftungswelle, von der 1.000 bis 1.500 Personen in Namangan und Andijan betroffen waren. Mehrere Personen wurden zum Tode verurteilt, viele verblieben bis heute in den Gefängnissen. Die Regierung führte die Unruhen auf den Einfluss „wa-habbitischer Terroristen“ zurück und reagierte mit noch größerem Druck auf islamische Gruppen. Im Fastenmonat Ramadan 1998 durfte nicht einmal mehr per Lautsprecher zum Gebet gerufen werden. Männer wurden von der Miliz gezwungen, ihre Bärte zu rasieren. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichten die repressiven Maßnahmen mit der Verhaftung Hunderter Personen im Ferghana-Tal nach dem Bombenattentat auf den usbekischen Präsidenten am 16. Februar 1999 in Taschkent. An diesem Tag explodierten sechs Bomben, die 15 Menschenleben kosteten und mehrere Gebäude beschädigten. Bis zum 23. Februar waren bereits 30 Personen, die nach Aussagen Karimows alle extremistischen religiösen Gruppen angehörten, festgenommen worden. Bis Anfang März desselben Jahres folgten weitere 200 bis 500 Personen. Im Juni 1999 wurden 22 Personen im Zusammenhang mit dem Attentat vor Gericht und sechs von ihnen in einem Schauprozess zu Tode verurteilt. Die anderen erhielten Gefängnisstrafen zwischen zehn und 20 Jahren. Niemand wurde freigesprochen. Darüber hinaus wurden Hunderte Personen festgenommen, die auf Taschkenter Märkten und anderen öffentlichen Plätzen Flugblätter zur Unterstützung der Angeklagten verteilt hatten.

DAZ: Der ehemalige britische Botschafter David Murray bezeichnete Karimows Politik als „essenziell paranoid“. Was ist dran an seinem grundlegenden Vorwurf, Karimow würde vereint mit den USA und Großbritannien durch seine Unterdrückungspolitik den Terror erst hervorrufen, gegen den er sich wendet?

Berg: Bisher, und vor allem nach dem 11. September 2001, gelang es Usbekistan immer wieder erfolgreich, sein nationales Problem mit religiösen Gruppen als Kampf gegen den Terror zu deklarieren und dafür Verständnis und Unterstützung von westlichen Regierungen zu erhalten. Für die Bereitstellung von Überflugrechten und Militärbasen in der Nähe der afghanischen Grenze erhielt Usbekistan allein 2002 zusätzliche 100 Millionen US-Dollar zur Unterstützung von Wirtschaftsreformen von den USA. Die Verletzung von Menschenrechten wurde in bilateralen und multilateralen Gesprächen danach kaum noch thematisiert.

Indem Karimow mit seinen „Anti-Terror Maßnahmen“ nicht unterscheidet zwischen gläubigen Personen und Extremisten und unter anderem das Ferghana-Tal bei jeder Gelegenheit quasi in „Sippenhaft“ nimmt, wird sich die Stimmung gegen ihn und seine Verwaltung immer mehr aufheizen. Aufgrund undurchsichtiger Wahlen und fehlender politischer Alternativen sind Sympathien und Unterstützung für extremistische Gruppen dann die einzige Möglichkeit, Unzufriedenheit mit dem politischen und wirtschaftlichen System auszudrücken.

DAZ: Tausende Menschen versuchen nun, nach Krigisistan zu flüchten. Warum?

Berg: Es ist davon auszugehen, dass sich viele Menschen nach Kirgisistan durchgeschlagen haben, weil sie sich von der dortigen Regierung und den internationalen Organisationen Schutz erhoffen. In Andijan müssen sie und ihre Familien mit Verschleppung, Schauprozessen, Folter und Tod rechnen. Nach unbestätigten Angaben sollen sich in einem Flüchtlingslager auf der kirgisischen Seite derzeit etwa 500 Personen, vor allem Männer, aufhalten.

DAZ: Wie schätzen Sie die Möglichkeiten einer Ausbreitung des Aufstands ein?

Berg: Die Unruhen in der usbekischen Stadt Andijon sind kein Handstreich religiöser Fanatiker, sondern Ausdruck der sozialen und wirtschaftlichen Ausgrenzung, unter der die Bevölkerung seit Jahren zu leiden hat. Der autoritär herrschende Präsident Islam A. Karimow, früherer Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Usbekischen SSR, regiert das Land mit eiserner Faust. Die in der Verfassung vom 8. Dezember 1992 postulierten Werte wie Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, aber auch politischer Pluralismus werden in der Praxis nicht umgesetzt und als Gefährdung für die Stabilität und innere Sicherheit angesehen. Politische Gegner aller Art werden verfolgt. In den Gefängnissen wird systematisch gefoltert.

Die Willkür der usbekischen Regierung und der Behörden richtet sich jedoch nicht nur gegen religiöse bzw. vorgeblich religiöse Gruppen und Individuen. Vielmehr leiden insbesondere Händler und Kleinunternehmer unter dem Fehlen jedweder Rechtsstaatlichkeit und tagtäglichen Übergriffen der Miliz. Durch drastische Importrestriktionen im Jahr 2002 sollte die Bevölkerung zum Beispiel dazu gezwungen werden, nur noch Waren aus der nationalen Produktion zu kaufen. Im Oktober 2003 ordnete die Regierung an, dass Händler nur noch in offiziell angemeldeten Kiosken und Geschäften verkaufen dürfen und Registrierkassen verwenden müssen. Diese und weitere Maßnahmen ruinierten das Leben vieler Kleinhändler und ihrer Familien. Die Rigorosität, mit der die Miliz und Steuerinspektoren die Anordnungen durchsetzen und bei Zuwiderhandlung Waren konfiszierten, führten in der Bevölkerung zu immer größerem Hass, der sich mehr als einmal in Streiks und Schlägereien der Basarhändler Bahn brach. Auch die Bombenanschläge von Ende März/Anfang April 2004 in Taschkent und Buchara müssen in diesem Kontext begriffen werden. Solange kein Ende der Willkür des Regimes Karimow in Sicht ist, wird es immer wieder zu neuen Aufständen kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Leidensfähigkeit der Bevölkerung, bis das Land flächendeckend davon erfasst wird.

DAZ: Fehlende Rechtssicherheit als mögliche Ursache eines gewaltsamen Umsturzes…

Berg: Ja, die Ereignisse in Kirgisistan und Usbekistan unterstreichen deutlich die Auswirkungen fehlender Rechtsstaatlichkeit auf die innere und äußere Sicherheit der beiden Länder.

Das kirgisische Osch, einer der Orte, wo die Proteste in Südkirgisistan begannen, liegt nur 30 km vom usbekischen Andijan entfernt. Die Bevölkerung hat dort vor wenigen Wochen gesehen, was eine entschlossene Masse ausrichten kann und, dass die Verwaltung und die Miliz nicht allmächtig sind. Was sie nicht bedacht hatten, war die Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt, die Karimow von Akajew unterscheidet.

Internationale Organisationen müssen in beiden Ländern darauf hinarbeiten, dass die nationalen Gesetze auf der lokalen Ebene implementiert werden. Erst wenn die Bevölkerung Rechtssicherheit hat, wird sie auch Vertrauen in abstrakte Begriffe wie Demokratie fassen und an ihre eigenen Mitgestaltungsmöglichkeiten in einem politischen System glauben.

DAZ: Vielen Dank für das Gespräch!

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