Knapp zwei Jahre nach Amtseinführung des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili im Januar 2004 wächst in Georgien die Kluft zwischen Arm und Reich. Die weltweit begrüßte Rosenrevolution hat den Menschen wenig Gutes gebracht. Nicht viel besser sieht es in der Ukraine aus. Zum ersten Jahrestag der orangefarbenen Revolution mehren sich in diesen Tagen ebenfalls die kritischen Stimmen. Angesichts der schwachen Bilanz des noch vor kurzem gefeierten Präsidenten Juschtschenko, der Entlassung seiner Premierministerin und politischer Skandale zeigen sich die Ukrainer zunehmend enttäuscht. In Meinungsumfragen führt mittlerweile Juschtschenkos alter Gegner Viktor Janukowitsch, gegen den sich die orangefarbene Revolution gerichtet hatte.

Emil Adelchanow steckt sich genüsslich eine starke Zigarette an. Sein kleines Büro mit Blick auf das spätherbstliche Tbilissi füllt sich mit Rauch. Es ist kühl, nur eine elektrische Heizsonne spendet diffuse Wärme. „So wie wir frieren noch immer viele Menschen in der Stadt”, sagt der Bürgerrechtler, der für das Kaukasische Institut für Frieden, Demokratie und Entwicklung arbeitet. „Strom und besonders Gas sind bei uns nicht für Arme. Das wird sich kaum ändern, wenn Russland, wie geplant, ab nächstem Jahr die Tarife weiter anhebt.” Georgien ist immer noch abhängig von den Energielieferungen des einstmals großen Bruders im Norden.

„Auch die Verbraucherpreise für viele Produkte sind seit der Amtseinführung Michail Saakaschwilis als Präsident im Januar 2004 enorm gestiegen”, berichtet Adelchanow. Be-sonders Grundnahrungsmittel seien um 20 bis 30 Prozent teurer geworden. Die Renten habe die Regierung im gleichen Zeitraum zwar auch angehoben. Dennoch bleibe das Versprechen der „Revolutionäre” von einst, die Armut zu bekämpfen und den Lebensstandard auf ein zivilisiertes Niveau zu bringen, weitgehend unerfüllt, so Adelchanow. Er muss selbst mehrere Tätigkeiten ausüben, um seine Familie ernähren zu können. „Die Rentnerin mit monatlich 28 Lari (umgerechnet etwa 13 Euro) in der Tasche könne sich entscheiden: Entweder mit Strom die Wohnung heizen und an Hunger leiden oder sich von Kartoffeln und Brot ernähren und frieren.”

Hohe Energiepreise als Druckmittel

Laut einer vom International Republican Institute im Oktober 2005 landesweit durchgeführten Umfrage glauben zwar noch 50 Prozent der Interviewten, dass Georgien auf dem richtigen Weg sei. Diese Zahl habe sich gegenüber dem Sommer allerdings um 15 Prozentpunkte verringert. Brennende innenpolitische Probleme wie die grassierende Armut sind eng mit dem angespannten Verhältnis zum großen Nachbarn Russland verbunden. Die hohen Energiepreise werden, so glauben Experten, von Moskau als Instrument eingesetzt, die Regierung in Tbilissi unter Druck zu setzen und das kleine Land südlich des Kaukasus zu destabilisieren. „Andererseits ist der Anstieg der Kosten für Lebensmittel auf die Initiative der georgischen Behörden zurückzuführen, Schmuggelware aus Russland aus dem Verkehr zu ziehen und damit der abtrünnigen Republik Südossetien die Lebensgrundlage zu entziehen”, meint Barbara Christophe, Georgienspezialistin an der Universität Frankfurt/Oder. Es gibt deutliche Parallelen zur Situation in der Ukraine, die ebenfalls von russischen Rohstofflieferungen abhängig ist. Das russische Unternehmen Gazprom plant bereits seit dem Sommer die Anhebung der Exportpreise für den Energieträger um das Dreifache. In Kiew befürchtet man das Schlimmste und kontert mit der Drohung, die Transitgebühren für russisches Gas drastisch zu erhöhen. Doch auch aus anderen Gründen steht Präsident Viktor Juschtschenko ein Jahr nach seinem Triumph in Orange vor einem postrevolutionären Scherbenhaufen. Die beliebte Ministerpräsidentin und Ikone der Kundgebungen vom vergangenen Herbst, Julia Timoschenko, wurde im September von Juschtschenko entlassen. Die Wirtschaft hat deutlich an Fahrt verloren und die alten Seilschaften funktionieren noch immer. In Meinungsumfragen führt mittlerweile sogar Juschtschenkos alter Gegner Alexander Janukowitsch, gegen den sich die orangefarbene Revolution gerichtet hatte.

Mündiges Volk – freie Presse

Auf den Straßen von Kiew machen der Beamte Viktor Kuschnir und einige Dutzend seiner Kollegen ihrem Ärger Luft. Sie prangern vor dem Bürgermeisteramt korrupte Praktiken beim Verkauf von Staatseigentum an. „Wir haben auch eine Stimme, und wehren uns dagegen, dass die Regierung ihre vor einem Jahr verkündeten Ziele nicht durchsetzt.” Zumindest hätte die Revolution die Bürger der Ukraine zu einem mündigen Volk gemacht, sieht Kuschnir einen gravierenden Unterschied zur Situation vor einem Jahr. Auch die früher gegängelte Presse berichte heute viel freier über politische Ungereimtheiten.

Für Georgien zeichnet Kulturwissenschaftlerin Christophe ein anderes Bild: Trotz kleinerer Erfolge bei der Bekämpfung der Kleinkorruption und im Bereich der Steuergesetzgebung, sei die Unzufriedenheit im Volk zwar da, aber es überwiege dennoch Apathie und nicht Aktionismus. „Saakaschwili stützt sich nicht auf politische Organisationen, sondern auf die Zustimmung der Menschen. Wenn diese aussetzt, fehlt der Regierung die Legitimität, und sie muss auf andere Partner zurückgreifen, wie etwa kriminelle Netzwerke“, meint Christophe.
Die politische Passivität der georgischen Bevölkerung beklagt auch Adelchanow und schaut aus dem Fenster. „Was der Präsident sagt, ist Programm. Die meisten politischen Gegner sind verstummt, die Opposition ist schwach und wenig charismatisch. Bei den Herrschenden überwiegt ein Klima der Selbstzufriedenheit – schlimmer als bei Schewardnadse. Und das, obwohl ihre politischen Erfolge bisher gering sind.” (n-ost)

16/12/05

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