Dagmar Schreiber arbeitet als Expertin für Tourismusentwicklung seit Juli 2008 in Almaty. Sie betreut im Informations- und Ressourcenzentrum Ökotourismus ein Netzwerk von ländlichen Gästehäusern in den schönsten Regionen Kasachstans. In ihrer neuen DAZ-Serie stellt die bekennende Kasachstanfreundin lohnenswerte Reiseziele vor. In dieser Woche nimmt sie die DAZ-Leser mit in den Nordosten Kasachstans zu einer Imkerei in der Nähe von Ridder.

/Bild: Dagmar Schreiber. ‚Komfortable Unterkunft im Westaltai: Imkerhütte, zwei nagelneue Blockhäuser, Sauna und ein sauberes Plumpsklo.’/

Gerade versuche ich, den Rat einer Berliner Physiotherapeutin zu befolgen und meine Wirbelsäule frei schwingen zu lassen, während die Sitzmuskeln sich, stark angespannt, auf die durchgesessene Rückbank unseres grünen Vehikels pressen. Das seltsame Auto namens LUAZ quält sich mit einer gefühlten Geschwindigkeit von fünf Kilometern pro Stunde den Berg hinauf, über Stock und Stein, auf einem Weg, der ideal zum Wandern scheint. 1.000 sitzend verbrachte Flugkilometer Almaty–Öskemen liegen hinter uns, drei Stunden Fahrt Öskemen – Ridder, wieder sitzend. Wie schön wäre es, jetzt zu laufen. Die 20 Kilometer bis zur Imkerei würden wir in vier bis fünf Stunden schaffen. Stattdessen halte ich mit der einen Hand meinen Rucksack fest, damit er mir bei besonders großen Sprüngen nicht um die Ohren fliegt.

Bergbaumuseum, Wildwestkulisse, unfertige sowjetische Mustersiedlung

Gennadi, zu dessen Gasthaus wir unterwegs sind, war mir merkwürdig vorgekommen, irgendwie fahrig, mürrisch, völlig deplaziert in dieser skurrilen Stadt im kasachischen Altai, einer Mischung aus Bergbaumuseum, Wildwestkulisse und unfertiger sowjetischer Mustersiedlung. In vorsowjetischer Zeit hieß der Ort Ridder, benannt nach einem britischen Geologen, der hier für den russischen Zaren bedeutende Buntmetallvorkommen entdeckt hatte. Die Sowjets nannten den Ort Leninogorsk. Jetzt hat die Stadt den alten Namen wieder. Leninogorsk konnte nur durch die Arbeit enteigneter so genannter Kulaken, politischer Sträflinge sowie deutscher und japanischer Kriegsgefangener zu dem Wohlstand aufsteigen, der zu spätsowjetischen Zeiten hier geherrscht haben soll. Alle, die heute noch hier sind, träumen davon. Sie haben es in den letzten 15 Jahren nicht leicht gehabt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ging hier alles den Bach, sprich, die Uba runter. Eine ganze Stadt hatte keine Arbeit mehr.

Erst heute berappelt man sich wieder. Mühselig freilich. Nicht alle, die früher im Bergbau Arbeit hatten, sind heute beim Hauptarbeitgeber KazZink gefragt. Viele versuchen sich in Handel und Kleingewerbe. Gennadis Frau Anna arbeitet in einem Textilgeschäft, Gennadi selbst sucht sein Auskommen in der Imkerei und im Tourismus. Auf seine Imkerei fahren wir jetzt, er will uns sein Gästehaus zeigen. Ich bin skeptisch.

Als wir den Bergbach Serschicha queren und gleich darauf vor ein paar Blockhäusern halten, ist es schon später Nachmittag. Die Sonne ist endlich da, sie steht eine Handbreit über dem Bergrücken im Westen und taucht alles in ein unglaubliches Licht. Ich lasse den verstaubten Rucksack achtlos vor der Blockhütte liegen und stürme mit der Kamera los, um die verbleibenden Minuten für eine Fotoorgie zu nutzen.

Zweckmäßig und liebevoll eingerichtetes Blockhaus

Als ich nach 20 Minuten zurückkomme, liegen unsere Sachen auf der Veranda. Gennadi und mein Begleiter Marat sitzen rauchend auf der Vortreppe, und Marat will wissen, ob ich das Innere unserer Unterkunft schon gesehen habe. Nein, habe ich nicht. Aber schon das Äußere ist beeindruckend. Nach meiner Erfahrung mit anderen Imkereien im Westaltai hatte ich eine verrauchte, finstere Bruchbude erwartet – hier aber stehen neben der alten Imkerhütte zwei nagelneue Blockhäuser, denen man die handwerkliche Meisterschaft ihres Erbauers ansieht. Ich trete über die Schwelle und finde mich in einem hellen, sauberen Raum mit drei Betten, Sofa, kleiner Küche und Ofen wieder, alles zweckmäßig und liebevoll eingerichtet. Das andere Haus ist etwas schlichter, es besteht aus einem großen Schlafraum für vier Personen. Überall riecht es nach frischem Holz. Draußen quillt verheißungsvoll Rauch aus dem Schornstein der Banja, und meine im letzten Zwielicht durchgeführte kritische Toiletteninspektion ergibt, dass man auf diesem sauberen Plumpsklo sogar gemütlich sitzen kann.

Wir richten uns für zwei Tage in unserem Häuschen ein, dann ruft uns Gennadis Bau- und Bienenhelfer Andrej zum Abendessen. Er ist immer hier oben, sommers wie winters. Seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein Mobiltelefon, das nur funktioniert, wenn man es zum Fenster hinaushält, genau zwischen die beiden kleinen Solarkollektoren auf dem Sims. Andrej hat aus selbstgezogenen Kartoffeln und den von uns mitgebrachten Fleischkonserven etwas Gulaschähnliches gekocht. Es riecht gut, aber ich esse nur frisches Brot mit Butter und Honig direkt aus der Wabe und schwöre, dass ich bis zur Abreise nichts anderes brauche.

Honigmassage in der Sauna

Während sich nach dem Essen bei vielen Tassen Tee mit Honig die Bude mit dem Rauch starker Draufgängerzigaretten füllt, gerät Gennadi in Fahrt und erzählt uns von seiner Vergangenheit. Vor uns sitzt ein zwischen Kamtschatka, Polarkreis, dem Fernen Osten, Sibirien und dem Altai bewanderter Abenteurer, dessen seriöseste Beschäftigung lange Zeit die Zobeljagd war. Erst diese entlegene Imkerei hier brachte ihn dazu, das unstete Leben und den Alkohol aufzugeben. Mit Propolis hat er seine Leber wieder lebensfähig gemacht, den Umgang mit den Bienenvölkern hat er sich selbst mit einem alten Handbuch rumänischer und deutscher Imker beigebracht – stolz zeigt er uns das zerlesene Exemplar, das wie eine Bibel auf dem Regal über seiner Pritsche liegt. Nach dem Ertrag gefragt, kommt er ins Schwärmen und zählt die Pflanzen auf, die von den Bienen angeflogen werden und welchen Einfluss die Mischung auf den Geschmack und die Heilwirkung hat. Wir befinden uns in einem Blütenparadies auch wenn davon jetzt kaum etwas zu merken ist. Von Dezember bis März kann der Schnee hier, in der niederschlagsreichsten Gegend Kasachstans, meterhoch liegen.
Aber heute heizen wir uns ein. Wir ziehen um in die Sauna. Bevor wir den Schwitzraum betreten, reicht Andrej noch eine Blechtasse zur Tür hinein – gefüllt mit Honig. Für die Honigmassage, sagt er und lächelt verlegen. Ob man davon nicht klebrig werde? Lachend verneint er. Nach dem letzten Schwitzgang reibe ich den Honig in die Haut ein. Er zieht sofort ein und ist spurlos verschwunden, es bleibt ein seidiges Gefühl und ein unglaublicher Duft, der auch nach dem erlösenden Abgießen mit eiskaltem Wasser nicht verschwindet. Wir ersetzen die ausgeschwitzte Flüssigkeit mit heißem Honigtee und taumeln matt und glücklich ins Bett. So gut wie in dieser mondhellen Nacht im Blockhaus mitten in der Taiga auf 1500 m Höhe habe ich schon seit Monaten nicht geschlafen.

Am nächsten Tag riecht es nach Schnee, aber ein strahlend blauer Himmel und gleißendes Sonnenlicht locken Marat und mich auf Erkundungstour. Wir laufen durch den Mischwald talaufwärts, überqueren den Fluss bei der alten Imkerei, wo der Bär im letzten Jahr die Tür eingedrückt hat, steigen durch den Nadelwald bis hoch zur Baumgrenze, wo nur noch mächtige Zedern auf den Matten wachsen, umgeben von kniehohen Wacholdergehölzen. Wir besteigen den Tscherepanowski Belok, eine der kahlen Kuppen, die so typisch für den Westaltai sind und die von unten gar nicht so hoch aussehen. Aber weit gefehlt! Der Aufstieg auf fast 3.000 m ist anstrengend und hat es wegen der großen Gesteinsbrocken in sich. Dafür ist die Aussicht von oben umwerfend. Ganz dahinten, weit unten im Tal blinkt das Metalldach von Gennadis neuem Blockhaus. Wir haben mindestens zehn Kilometer zurückgelegt, und jetzt steht uns noch der Abstieg entlang der Serschicha bevor, über Geröll und durch hüfthohen Bewuchs, ohne Machete. Bis zum Einbruch der Dunkelheit haben wir noch drei Stunden – das könnte man gerade so schaffen. Ich denke an den Bären, und mir ist unbehaglich. Hat er sich schon zum Winterschlaf zurückgezogen oder frisst er sich gerade die entscheidende Speckschicht an?

Es ist fast dunkel, als wir abgekämpft und glücklich ankommen. Gennadi und Andrej sehen besorgt aus, sie haben wohl gedacht, wir hätten uns verlaufen. Wir trinken Tee und essen Brot – beides natürlich mit viel Honig, und dann werden wir wieder in die Banja geschickt. Nachts kommt Sturm auf, und als wir morgens vor das Blockhaus treten, ist die Welt grau. Kein Blatt mehr an den Birken, alles leergefegt. Dunkle Wolken jagen über den fahlen Himmel, hin und wieder reißen sie kurz auf wie ein Theatervorhang, und ein unsichtbarer Beleuchtungsmeister taucht die veränderte Landschaft in ein dramatisches Licht. Für die Abfahrt genau das richtige Wetter.

Snowmobile und Schlitten stehen bereit

In Ridder werden wir noch den Geologen Viktor Kusnezow besuchen, um seine neuesten Meteoritentheorien begierig aufzunehmen, werden bei ihm im geheizten Gartenhaus inmitten seiner Steinsammlung übernachten, am nächsten Tag den weitläufigen und überraschend gut gepflegten Botanischen Garten von Ridder besuchen und dann mit dem Bus nach Öskemen fahren.

Wir machen Winterpläne. Gennadi hat uns von Snowmobile und Schlitten erzählt, mit denen man in 30 Minuten hoch zur Imkerei brausen kann, wenn Schnee liegt.

Ende Oktober 2008 ist die 3. Auflage von Dagmar Schreibers Reiseführer „Kasachstan entdecken“ erschienen.

Von Dagmar Schreiber

06/02/09

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