Kasachen waren bis in die 1920er Jahre ein vor allem nomadisch lebendes Volk. Dann wurden sie von den sowjetischen Machthabern durch Zwang sesshaft gemacht. Doch das Gefühl von Freiheit in der Steppe blieb. Als deutscher Expat versucht unser Autor, das nachzuempfinden.

Kasachstan – das Land der Steppe und der Seidenstraße. Der Mythos der Nomaden, die mit Jurte und Pferd die weiten Steppengebiete Zentralasiens beherrschten und sich gegen einfallende Mongolen und Chinesen verteidigten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Kasachstans. Als Fremder will natürlich auch ich in dieses kasachische Gefühl der Freiheit und der Weite eintauchen.

Kasachen berufen sich darauf, dass sie die ersten in der Geschichte der Menschheit waren, die Pferde geritten, domestiziert und gezüchtet haben. Allerdings habe ich in meinem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd gesessen und Adler machen mir eher Angst, als dass ich mit ihnen auf die Jagd gehen würde. Einzig und allein geschmacklich kann ich mich dem Gefühl der Steppe mit einem Stück Pferdefleisch und einer Schale Kymys (gegorene Stutenmilch) nähern.

Auch wenn die Regierung derzeit „100 sakrale Stätten“ in Kasachstan suchen lässt, liegt es in der Natur der Sache, dass ein nomadisch lebendes Volk so gut wie keine architektonischen Kulturdenkmäler und Stätten hinterlässt. Die große, historische Architektur Zentralasiens findet sich fast ausschließlich im Süden des Landes, im persisch geprägten Turkestan, oder in den für ihre himmelblauen Kuppeln bekannten Karawanenstädten Samarkand und Buchara.

Einen Ort gibt es allerdings in Kasachstan, wo sich das Leben in der Steppe zumindest erahnen lässt: Die „Nomadenstadt“ in der Nähe der Stadt Qapschaghai, rund 100 Kilometer nördlich von Almaty gelegen. Die „Nomadenstadt“ befindet sich in einem einsamen Tal des Flusses Ili, vor dem Panorama verklüfteter Gesteinsformationen. Fairerweise muss man dazu sagen, dass es sich nicht um eine echte, historische Siedlung handelt. Die „Nomadenstadt“ ist das Überbleibsel der Produktion eines Spielfilms aus dem Jahre 2005. Das kasachische Heldenepos „Nomad – The Warrior“ des kasachischen Regisseurs Talgat Temenow erzählt mit beeindruckenden Natur- und Landschaftsaufnahmen und viel hollywoodreifer Action die Geschichte des kasachischen Nationalhelden Ablai Khan nach. Die Kulissen sollten eigentlich nach Ende der Filmproduktion wieder abgebaut werden, doch offensichtlich ist das Filmset so gut gelungen, dass man es einfach stehen ließ und heute besuchen kann.

Ablai Khan lebte von 1711 bis 1781 und war der Anführer der Mittleren Horde. Er setzte sich für die Stärkung eines unabhängigen kasachischen Staates ein und wollte alle drei Horden, die Große, die Kleine und die Mittlere, zusammenbringen. Als Volksheld gilt er jedoch für  die erfolgreiche Verteidigung kasachischer Gebiete gegenüber aus China fortwährend einfallender Dschungaren als Kommandeur des kasachischen Militärs.

Die Kulisse dieser künstlichen Karawanserei ist erstaunlich klein, aber die verschiedenen Häuserfassaden strahlen wirklich großen Charme und so etwas wie ein Gefühl der Steppe und der Seidenstraße aus. Hinter jeder Ecke bietet sich ein neuer, faszinierender Blick durch kleine, orientalisch anmutende Gässchen. Ob und in wie weit sich die Erbauer dieses Steppenstädtchens an architektonische Vorbilder und Authentizität gehalten haben, ist unbekannt. Schlussendlich handelt es sich aber tatsächlich lediglich um Fassaden für einen Kinofilm, historische Genauigkeiten kann man wohl also vernachlässigen. Aber dieser Ort lebt insbesondere von seiner Atmosphäre in völliger Abgeschiedenheit, am Ende einer Ebene gelegen, eingeklemmt zwischen Flussufer und steil nach oben ragenden, schroffen Felswänden. Dass Ablai Khan jemals selbst an diesem Ort war, darf wohl stark bezweifelt werden. Wäre der große kasachische Nationalheld allerdings einmal selbst auf seinem Pferd durch dieses beeindruckende Flusstal geritten, hätte es ihm dort vielleicht gefallen und er hätte tatsächlich eine solche Festung hier gebaut.

Philipp Dippl

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