Wolfgang Kersting stellt mit Kant eine Rechtsphilosophie vor, die die Ordnung der Gesellschaft auf ewigen Prinzipien zu gründen versucht. In den Zeiten ökonomisch argumentierender Nutzenoptimierung ist eine solche Gesellschaftsbegründung unzeitgemäß und daher eine Herausforderung. Legitimation durch Prinzipien bleibt der harte Kern in Kants Rechtsphilosophie.

In Deutschland ist eine Formel zum geflügelten Wort geworden, die besagt, der Rechtsstaat sei auf Vorraussetzungen angewiesen, die er selbst nicht bereitstellen könne. Meist wird daraus gefolgert, religiöse Wertevermittlung sei die Bedingung der Möglichkeit moderner Rechtsstaatlichkeit. Doch die Integration moderner Gesellschaften scheint ein komplexer Prozeß zu sein. Noch nie waren die Bürger der modernen Gesellschaften so mobil, die Bevölkerungen so kulturell heterogen. Und auch die Unterschiede zwischen arm und reich werden beständig größer. Was hält die Gesellschaften unter diesen Bedingungen eigentlich zusammen? Warum funktionieren die Rechtsstaaten trotz allem, wenigstens halbwegs?
Wolfgang Kersting hat nun in einer umfangreichen Darstellung ausgeführt, welche Antwort Immanuel Kant in seiner Rechtsphilosophie auf diese Frage formuliert hat. Dass dabei mehr als eine Darstellung entstanden ist, nämlich eine Rekonstruktion und Verteidigung, wird zwar nicht im schlichten Titel – „Kant über Recht“ -, wohl aber im Text selbst deutlich. Nach Kersting ist Kants Staatstheorie nicht nur interessant, sondern im Wesentlichen richtig, auch zweihundert Jahre nach Kant.

Was also hält die Gesellschaft zusammen? Warum soll sich der Einzelne in einer übersichtlichen Welt halten? Kants Antwort ist glasklar: Die Vernunft selbst erschließt uns die Einsicht in die Verbindung von Ordnung und Freiheit. Es ist unsere angeborene, „transzendentale“, also vorgegebene, Vernunft selbst, die uns schon vor aller empirischen Erfahrung einsehen lässt, dass wir nur frei sein können, wo nicht alle machen dürfen, was sie gerade wollen. Nur in der Sicherheit des Rechtsstaates kann es überhaupt freie Bürger geben – die vermeintliche Freiheit der Anarchie ist nichts anderes als ein tierisches Dasein.

Originell an dieser Antwort ist nun nicht, dass Freiheit und Ordnung zusammenhängen und der Mensch nur in der „wohlgeordneten Freiheit“ (Kersting) einer Republik der Vernunft wirklich Mensch sein kann. Dass der Mensch im Chaos des Rechtsvakuums zur Bestie wird, das zeigt sich bei jedem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, sei es durch Krieg oder Naturkatastrophen. Nein, originell, ja revolutionär ist Kant an dieser Stelle durch seine Begründung. Denn in den Staats- und Rechtstheorien vor Kant war es nicht etwa die vernunftgeleitete Einsicht, sondern das triebgeleitete Interesse, das den Menschen in den Gesellschaftsvertrag zwang. Die bloße Klugheit, das Kalkül lege es dem Menschen nahe, sich an die Gesetze zu halten, um nicht selbst zum Opfer von Rechtsbruch zu werden, glaubte Thomas Hobbes.

Manche zeitgenössische Philosophen wie beispielsweise Vittorio Hösle sehen in diesem auf Hobbes zurückgehenden Erbe den großen Irrtum der Moderne. Nur weil es der Nutzenkalkulation des Einzelnen entspricht, soll er sich als homo oeconomicus an Regeln halten? Die Rechtsanwendung aus Eigennutz ist überhaupt keine Rechtsanwendung, so Kant. Denn diese reicht immer nur bis zur nächsten Kalkulation, nur so weit, wie der starke Arm der staatlichen Zwangsgewalt greifen kann. Und mehr als das: Das ökonomische Denken in Vorteilen verseucht unser Denken. Wollen wir in der Kirche Almosen geben, aus der Kalkulation heraus, deshalb in den Himmel zu kommen? Das wäre nur noch ein schäbiges Geschäft, keine „Gabe“ mehr. Recht und Gerechtigkeit müssen um ihrer selbst willen gelten, nicht aus Zweckberechnung.

In diese Kerbe schlägt auch Kersting: Kants Theorie einer „Republik der Vernunft“ komme zwar im Gewande einer Vertragstheorie daher. Daher wird Kant auch in die Schublade des „Kontraktualismus“ gesteckt und der Familie jener Staatstheorien zugeordnet, die den Staat als Resultat eines Vertrages beschreiben. Aber Kants Vertrag ist gar kein Vertrag zwischen wollenden Bürgern (die vielleicht auch anders wollen könnten), sondern das vernunftnotwenige Bindeglied transzendentaler Vernunft-Subjekte. Kants Gesellschaftsvertrag ist sozusagen nicht von dieser Welt, sondern überzeitlich, präempirisch, alles Folgende begründend. Er ist uns mit der gleichen unwiderlegbaren Klarheit gegeben wie der Satz des Pythagoras, unbestreitbar, nicht erfunden, sondern gefunden – immer schon da. Und gerade aus dieser notwendigen Einsicht soll denn auch die Motivation für die Rechtsbindung entstehen. Nicht weil wir Rechtssicherheit wollen, binden wir uns an den Vertrag, sondern weil wir an den Vertrag gebunden sind, wollen wir Rechtsgültigkeit.

Sind es also diese transzendentalen Einsichten, die die Gesellschaft zusammenhalten? Hegel gab eine andere Antwort, eine dritte, die weder auf den Egoismus des Einzelnen (Hobbes) noch auf die reine Vernunft (Kant) rekurrierte: gelebte Sittlichkeit. Gelebte Sittlichkeit – das ist nach Hegel die Einheit von Pflicht und Recht, die gelebte Tugend in der wir weder aus bloßer Kalkulation noch aus interessenloser Pflichterfüllung handeln, sondern weil wir mit anderen in einem Regelsystem leben, das uns so selbstverständlich ist, dass wir es gar nicht bemerken. Diese Einheit finden wir in der Familie, in den bürgerlichen Vereinen, schließlich: im bürgerlichen Rechtsstaat.

Hegels Auseinandersetzung mit Kant braucht Kersting nicht zu interessieren. Der Formalismus-Vorwurf versuche Kants Rechtsgesetz als Deduktionsprinzip zu behandeln, wo es nur um ein Ausschlussverfahren gehe. Kersting setzt in seiner Darstellung auf den Akzent, auf die Einbettung und Abgrenzung Kants zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen. Gerade diese Exkurse zur Pflichtenethik des 18. Jahrhunderts machen das Buch zu einer Überblicksdarstellungen, die sich nicht im berüchtigten Rokoko-Garten Kantscher Unterscheidungen verliert. Kersting schlägt vor, „Kants Levitation ins Noumenale“, also den metaphysisch-rationaltheologischen Sprachduktus Kants hinter uns zu lassen. Dass wir aber Handlungen nicht mit Interessen begründen können, bleibt eine unhintergehbare Einsicht, so Kersting, Kants Rechtsphilosophie daher ein Prüfstein für alles Folgende.

Kersting, Wolfgang: Kant über Recht, Mentis-Verlag, Paderborn 2004.

21/10/05

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