Von Riga bis Wladiwostok, von Murmansk bis Taschkent, in der ehemaligen Sowjetunion wurde  und wird bis heute überaus gerne süß genascht. Üppige, bunte Sahnetorten gehören zu jedem Feiertag; eine Mitternachtsteetafel ohne kleine süße Naschsachen ist kaum denkbar. Das kleine, runde Kindergesicht auf der Verpackung der „Aljona“-Schokolade aus der Moskauer Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ hat Generationen sowjetischer Schleckermäuler geprägt. Dabei ist die kasachische Schokolade der Rachat-Fabrik im Herzen Almatys die allerbeste. Aber das ist nur meine persönliche Meinung.

Vor kurzem bin ich auf einen sowjetischen Süßigkeiten-Klassiker gestoßen, von dem ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Im Westen völlig unbekannt, ist jedes sowjetische Kind mit diesem sonderbaren „Schokoriegel“ aufgewachsen. Es handelt sich um „Gematogen“. Die Besonderheit dabei: Er wird unter anderem aus Rinderblut hergestellt.

Die Gematogen-Riegel, erfunden 1890 in der Schweiz, wurden seit den 1920er Jahren in der Sowjetunion produziert, in erster Linie als eine medizinische Süßigkeit für Kinder zur Behandlung und Vorbeugung von Anämie, also Blutarmut, ein Krankheitsbild, von dem jeder vierte Mensch betroffen ist. Anämie ist die Folge einer Hämoglobin-Verminderung im Körper, also Eisenmangel. Die Folgen können leichte Ermüdbarkeit, Luftnot oder häufige Kopfschmerzen sein. Blut ist eisenhaltig und in der Lage, diesen Mangel auszugleichen, ein einfaches Prinzip, dass seit Jahrhunderten bekannt ist und in verschiedenen Formen in den meisten Kulturen der Welt angewendet wird. Nicht nur Blutwurst gehört zur Esskultur vieler Länder, auch zur deutschen.

Die Sowjetunion war immer klamm an Ressourcen. An Rinderblut, eigentlich ein Abfallprodukt nach der Schlachtung von Rindern, hat es allerdings nie gemangelt. So konnte das Blut, neben seinem gesundheitlichen Aspekt, auch noch einen Beitrag zur sowjetischen Wirtschaft leisten. Viele Produkte waren nicht immer in den Regalen der Läden und Kaufhallen zu haben, Gematogen war allerdings immer verfügbar und somit ein wichtiger Bestandteil in der Kindheit eines jeden Sowjetbürgers. Aufgrund seines eigentlich medizinischen Charakters wurde der Riegel in der Sowjetunion aber nur in Apotheken vertrieben, oft auch von Ärzten verschrieben. Heute ist das anders, auch Supermärkte haben Gematogen heute oft im Angebot.

Nun, wie schmeckt der Riegel aus Rinderblut? Er besteht aus einer süßen, nussigen, relativ zähen Grundmasse. Und tatsächlich ist ein deutlicher metallischer Geschmack nicht von der Hand zu weisen. Noch in der Sowjetunion mischten die Produzenten mindestens fünf Prozent Rinderblut hinzu. Heutzutage besteht der Riegel allerdings auch aus einem Drittel Kondensmilch und einer Hälfte reinem Zucker. Daher ist heute der gesundheitliche Effekt auch eher umstritten, insbesondere für Diabetiker. Im Westen werden Vitaminpräparate hauptsächlich synthetisch hergestellt, Rinderblut in rauen Mengen wird dafür nicht mehr benötigt. Doch auch dabei werden nicht selten große Mengen Zucker zugesetzt. Was nun zu bevorzugen ist, bleibt wohl jedem selbst überlassen.

Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gab es so einige Schrulligkeiten, die ich erst kennenlernen musste. Nicht nur Kwass, ein bierähnlicher Trunk aus vergorenem Brot, und Birkensaft waren mir zu Beginn neu. Eine Bekannte, die im Altai-Gebirge aufgewachsen ist, erzählte mir gar, sie habe als Kind kleine Holzstöckchen in Ameisenhaufen gesteckt. Nach einer Weile schmeckte das Holz der Stöckchen süßlich. Heute weiß sie, der süßliche Geschmack kam von den Ausscheidungen der Ameisen.

Philipp Dippl

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