Die Zeit rennt unerbittlich davon; es scheint uns, dass wir erst neulich Kinder waren, aber schon heute steht das Greisenalter vor der Tür. Was aber soll man gegen diese Vergänglichkeit machen? Vielleicht muss man einfach die Geschichte des eigenen Lebens an zukünftige Generationen überliefern, um nicht allzu schnell vergessen zu werden. Wir finden Geschichten aus der Vergangenheit anderer Leute besonders bereichernd, weil wir in ihnen nach der verborgenen Weisheit des Lebens suchen und sie auch finden können.

Elvira Jakowlewa (geborene Sisikowa) hat eine besondere Lebensgeschichte. Sie wurde 1928 in der Ukraine, im Gebiet Saporoschje, geboren und wuchs in einer großen Familie mit sechs Geschwistern auf.

Elviras Opa, Herr Nickel, emigrierte 1920 nach Kanada, aber Elviras Eltern zogen es vor, in der Ukraine zu bleiben. Elvira erinnert sich noch heute an die Worte ihrer Oma: „Wir wurden an der amerikanischen Küste abgesetzt und auf einen Markt geschickt. Dort kamen amerikanische Geschäftsmänner und nahmen die besten Familien als Arbeitskräfte für sich mit.“ In den Folgejahren eröffnete der Opa dann dort ein Geschäft und begann Kleidung zu nähen.

Zur gleichen Zeit waren Elvira und ihre Familie der Willkür der Machno-Bewegung, eines antisowjetischem Aufstands in der Ukraine, ausgesetzt, weswegen nun auch sie nach Kanada aussiedeln wollten. Zu diesem Zweck reisten sie nach Moskau, um dort alle bürokratischen Hürden der Auswanderung zu nehmen. Da in dieser Zeit die Emigrationswelle sehr stark geworden war, verfügte die Regierung, dass niemand mehr aus dem Land auswandern dürfe. Die Probleme hätten sich zwar durch Zahlung eines Bestechungsgeldes sofort lösen lassen. Dennoch entschied Elviras Vater: „Ich habe das Leben noch nie gekauft, und bezahle auch jetzt kein Geld!“.

Rückkehr in die Ukraine

Darum kehrte die Familie in die Ukraine zurück und fristete fortan in einem spärlich eingerichteten Haus ein ärmliches Leben. Ganz langsam stieg der Lebensstandard, bis in den 1930er Jahren die Kollektivierung wieder alles wegnahm. Elviras Vater gab freiwillig alles her: das Land und seine Landwirtschaftsmaschinen, aber es war trotzdem nicht genug. Die Familie wurde bedroht: wenn sie das Haus nicht verlassen sollte, dann würde man sie in eine andere Stadt zwangsumsiedeln. 1932 zog die Familie dann freiwillig in das Dorf Alexandertal im Bezirk Kuibyschew (heute wieder Samara). Aber das Unglück war damit noch nicht beendet: 1934 wurde der Vater als „Staatsfeind“ verhaftet, worauf eine sehr schwierige Zeit für Elvira und ihre Familie begann. So durfte Elviras Mutter überhaupt nicht arbeiten, nicht einmal Kühe melken. Der Vater wurde nach anderthalb Jahren aus der Haft entlassen. Aber noch immer erlebte die Familie Schwierigkeiten, denn niemand mochte einen ehemaligen Gefangenen in Dienst nehmen. Nur ein Müller war bereit, ihm Arbeit zu geben. Das Unglück der Familie wollte aber damit nicht enden: Elviras Vater wurde erneut willkürlich verhaftet. Als dann der ältere Bruder Elviras die Schule beendet hatte, zog die restliche Familie ohne den Vater nach Tatarstan, denn dort gab es Arbeit.

1934 beendete Elvira die siebte Klasse und absolvierte darauf einen pädagogischen Kurs der örtlichen Berufsschule. Daraufhin wurde sie völlig unerwartet als Deutschlehrerin eingestellt, denn sie war zu diesem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt. Deswegen half ihr bei der Arbeit ihre Mutter, die ebenfalls Deutschlehrerin war.

1948 wurde der Vater unter der Bedingung entlassen, dass er sich in Ust-Kamenogorsk niederließ. So siedelte Elviras Familie in diese Stadt am Fuße des Altai-Gebirges um, nur Elvira blieb an ihrer Schule in Tatarstan.

Studium und Heirat

Elvira war immer noch ein junges Mädchen und wusste, dass sie ihr Studium unbedingt fortsetzen musste. Ihr älterer Bruder holte Elvira zu sich in den Bezirk Tambow, damit sie dort ihre Ausbildung beenden konnte. Nachdem Elvira das Studium beendet hatte, wurde sie als Lehrerin nach Ust-Kamenogorsk berufen. Dort unterrichtete sie dann 23 Jahre lang mit viel Engagement in der Schule Nr. 27. Sie heiratete den Kriegsveteranen Alexej Alexandrowitsch, den sie als einen ehrenwerten und feinen Mann beschreibt. 42 Jahre lebten sie zusammen und haben drei Söhnen das Leben geschenkt.

Wenn Elvira über ihr sehr ereignisreiches Leben nachdenkt, leuchten ihre Augen. Sie ist jetzt 84 Jahre alt. Sie fühlt sich aber noch immer als aktive Person, mag Malerei und Handarbeit. Auf die Frage, welches der glücklichste Moment in ihrem Leben war, antwortete Elvira mit sehr weisen Worten: „Es gibt kein Glück, nur glückliche Momente. Jede Zeit ist glücklich in ihrem Sinn. Mein Glück besteht in Arbeit, die Freude macht, in meinem ehrenwerten Mann und meinen geliebten Kindern“.

Elvira ist nicht nur ein interessanter, gebildeter und gutherziger Mensch. Sie hält auch die Geschichte ihrer Familie in Ehren, bewahrt sie und überliefert sie andächtig ihren Kindern. Zum Schluss unseres Gespräches fügte sie noch hinzu: „Ich könnte noch so viel mehr erzählen. Unsere Generation wird irgendwann das Zeitliche segnen und dann schnell vergessen werden.“ Elvira hat recht: jeder Mensch sollte unbedingt seine Geschichte kennen und sich an sie erinnern. Es gibt ein edles Wissen im Gedächtnis der Menschen, nämlich die Erinnerungen. Erinnerungen an Liebe und das Leben, an Freunde und den Abschied von ihnen, an Glück und Unglück. Unsere Seelen brauchen keine Ewigkeit, es reicht für uns, wenn man uns zuhört und unserer dann später einmal gedenkt. Jeder Mensch ist würdig, erinnert zu werden. Behalten wir das immer im Gedächtnis!

Marina Baranowa (21), stammt aus Öskemen und verbringt zur Zeit ein Jahr in Deutschland als Aupair. In Öskemen hatte sie Management studiert und am Sprachlernzentrum Deutsch erlernt.

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Projektbeschreibung

Wie verlief eine Kindheit in Zeiten des leidvollen Zweiten Weltkrieges in Russland? Wie verbrachte man dort die Jugend in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit? Wie entwickelte sich dann das Leben im aufblühenden großen Reich der Sowjetunion weiter? Und was für Erkenntnisse und Weisheiten hat ein alter Mensch erlangt, der auf sein Leben zurückblickt?
Solche und ähnliche Fragen stellten junge Kursteilnehmerinnen des Sprachlernzentrums in ihrer Stadt Öskemen (russisch: Ust-Kamenogorsk; Provinzhauptstadt der Region Ostkasachstan) und Umgebung alten deutschstämmigen Menschen. Sie trafen sich mit diesen Leuten bei einer Tasse Tee und sprachen über deren Leben. Schließlich hielten sie ihre Eindrücke in Aufsätzen fest. Diese Aufsätze sollen nun mit den DAZ-Lesern in einer Serie geteilt werden.

Es fiel auf, dass die befragten Menschen in den ohnehin schwierigen Zeiten des Weltkrieges und der Nachkriegszeit aufgrund ihrer deutschen Herkunft zusätzliche Schwierigkeiten erleiden mussten. Da ist zum Beispiel die heute 85-jährige Nelly Melnikowa. Sie wollte ihre große Leidenschaft Literatur studieren. Da aber Deutschen ein Studium im Bereich der Politik und Gesellschaftswissenschaft zunächst verwehrt war, musste sie von diesem Traum Abstand nehmen. Oder da ist Emma Fjodorowa, die als neunjähriges Mädchen ihre Eltern zeitweise verlor, weil diese in die Trudarmee eingezogen wurden. Ein ganz anderer Gesprächspartner ist Anatoli. Dieser ist zwar Russe, aber dennoch hat er einen ganz besonderen und interessanten Bezug zur deutschen Kultur: als 72-jähriger Rentner lernt er noch immer aktiv Deutsch und teilte mit uns auch seine Ansichten über Deutschland und das Lernen im Alter.

Daniel Gallmann (35) ist Sprachassistent des Goethe-Instituts am Sprachlernzentrum Öskemen

Von Marina Baranowa

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