Ich kam jüngst in die günstige Gelegenheit, mir preisgünstig einen antiken Flügel zu erwerben. Wenn man etwas Wertvolles günstig erhält, verbirgt sich auf der Gegenseite meist ein tragisches Schicksal. Denn wer würde ohne triftigen Grund einfach so einen ehrwürdigen Flügel loswerden wollen? Eben!

Mein Flügel stand nur deshalb zum Verkauf, weil das ältere Ehepaar in eine kleinere Wohnung ziehen musste. Nach 37 Jahren hat es die Vermieterin geschafft, die beiden netten Leute aus dem geliebten Heim zu ekeln. Der Grund: Sie musizieren. Flöte. Musik. Gesang. Ein nicht auszuhaltender Lärm, der unbedingt zu unterbleiben habe.

Man versteht es nicht. Aber nun, es sind brave, nette Leute, die auch bei Unverständnis für so einen Unfug trotzdem gewillt sind, Rücksicht zu nehmen und Konflikte zu vermeiden. Ein klein wenig Musik ab und zu, nicht zu lang, nicht zu laut, nicht zu ungewöhnlichen Uhrzeiten. Trotzdem, half alles nichts! Musik sei Lärmbelästigung.

Die Vermieterin ging sogar so weit, mit den Fäusten gegen die Tür zu trommeln und die Polizei zu rufen, wenn sie ein Fünkchen Musik hörte. So ging das eine ganze Weile, bis der Wahn überhand nahm. Und die Wahnsinnige das Ehepaar verklagte: 250.000 Euro müssten sie zahlen, wenn sie im Wiederholungsfall noch einmal solch einen Lärm veranstalteten.

Der besagte Lärm: zwei Flöten in Begleitung des Flügels. In „Orchesterlautstärke“ hätten sie gespielt. Da fehlen einem die Worte. Und wenn das nicht so absurd wäre, könnte man sogar stolz darauf sein, dass man mit nur drei Instrumenten wie ein Orchester klingt. Da aber alle außer der Klägerin sich sehr empörten, insbesondere der Richter, wurde die Klage zurückgezogen. Die einzig vernünftige Reaktion.

Ausziehen mussten die beiden trotzdem, da sie sonst in den Wahnsinn getrieben worden wären. Es fand sich allerdings nur eine viel kleinere Wohnung, in der sie nun mehr Lärm veranstalten dürfen, jedoch blieb kein Platz für den Flügel, weshalb sie von der Möglichkeit, hemmungslos musizieren zu können, nicht mehr Gebrauch machen können. Wie absurd!
So hat der für mich freudige Teil des Verkaufs eine traurige Gegenseite, was die Freude meinerseits wieder einschränkt. Inzwischen haben wir uns aber befreundet und freuen uns gemeinsam, dass der Flügel in Anbetracht der traurigen Umstände eine so freundliche Herberge gefunden hat. Und noch weiter hat mir der Flügel sogar ein neues und noch schöneres Heim beschert. Die Maklerin, die ein äußerst begehrtes Häuschen angeboten hat, fragte mich, mit wie viel Personen ich denn einziehen wolle, da es für zwei Personen gerade recht, für dreie etwas eng sei. Na ja, sagte ich, eigentlich sei ich allein.

Was für ein Luxus! sagte die Maklerin. Es klang wie ein leichter Vorwurf. Ja schon, gab ich zu. Aber ich brauche eben so viel Platz, da ich streng genommen zu dritt sei: Ich selbst, mein Büro und mein Flügel.

Das war der Schlüssel, denn die Maklerin ist auch stolze und frohe Flügelbesitzerin, weshalb sich das Gespräch schnell verlagerte. Und mit der Frage endete, ob ich schon eine Viertelstunde vor dem offiziellen Besichtigungstermin erscheinen könne. Und heute verbringe ich den dritten Tag in meinem kleinen netten Häuschen, der Flügel steht unten in seinem eigenen Zimmer und darf hemmungslos zu jeder Tag- und Nachtzeit bespielt werden.

Julia Siebert

26/02/10

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