Ihr Beruf als Beraterin bringt es für Kolumnistin Julia Siebert mit sich, dass sie ihr eigenes Handeln reflektiert. Dabei könnte es so entspannend sein, einfach mal ganz unreflektiert mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher zu liegen…

Als Mensch darf man viel, was man sich als Coach oder Teilnehmer von Kommunikationsseminaren verkneifen muss. Das ist jammerschade. Ein Plädoyer fürs unreflektierte Schwadronieren und Lümmeln.

Wenn man sich als (selbst-)reflektierten Menschen versteht, muss man, um entspannter zu leben, ständig irgendetwas tun oder lassen: sich beobachten, in sich gehen, analysieren, reflektieren, Potenziale erkennen und nutzen, alte Muster und Blockaden abbauen, etwas los- oder zulassen, sich einlassen … Uff und puh! Da verspanne ich mich schon bei der Vorstellung. Nachdem ich auch solche Phasen durchlebt und durchlitten habe, kommt mir das im neunmalklugen Rückblick alles recht unentspannt vor. Mir scheint, das Lümmeln und Fläzen auf dem Sofa ist entspannender, wenn man einfach nur lümmelt und fläzt, OHNE sich dabei selbst zu beobachten, ob man grad auch genug in der Selbstliebe, im Hier und Jetzt und der eigenen Mitte ist. Reflektierendes Fläzen ist ein Contradictio in adiecto. Zur Steigerung des Entspannungsfaktors beim Fläzen empfehle ich eine Tüte Chips, eine Flasche Bier und eine Folge Spiderman; und zwar ausdrücklich OHNE zu reflektieren, dass das auch mal sein muss, dass man sich mal gehen lassen darf usw.

Da ich mich als beratender Mensch mit vielen Menschen aus dem Beratungssektor umgebe, hat sich eine gewisse Gesprächskultur verselbständigt, in der wir uns auch in der Freizeit und in der Kneipe ständig gegenseitig coachen, auch unabsichtlich und unbemerkt. Nachdem ich viele Kommunikationspartner um mich gehabt habe, die sich als Sender oder Empfänger von Botschaften definieren, dürstet mich nach „normalen“ Menschen, die fragen, was man macht und wie es einem geht anstatt, was es mit einem macht und wie man damit umgeht. Ich möchte so gern mal wieder frei Schnauze äußern, was mir in den Sinn kommt, ohne analysiert und zensiert zu werden, dass ich meinen Fokus zu sehr hierauf und darauf richten würde oder das Spiegelbild vorgehalten bekomme. Ein einfaches „Mumpitz!“ oder „Du spinnst ja!“ als Rückmeldung kommt mir da erfrischend vor. Ich möchte jammern und klagen dürfen, ohne dass das als problem- oder lösungsorientiert eingeordnet wird und für meine Warum-Fragen nicht gescholten werden, dass es Wozu zu heißen hat, weil die Warum-Fragen die persönliche Weiterentwicklung behinderten. Und wenn ich jemanden frage, ob er Zukunftspläne schmiedet, möchte ich mir keinen Vortrag darüber anhören, warum die Gegenwart die einzig wahre Zeitform ist und sich nur die Noch-nicht-Erleuchteten in der Vergangenheit und Zukunft aufhalten. Ich will wettern und werten, was das Zeug hält und auch mal mit der Faust auf den Tisch hauen dürfen, weil sich der Mensch eben auch mal erregt.

Ich schätze, ich muss besser zwischen privat und beruflich trennen und meine Freunde in anderen Berufskreisen suchen: bei Maurern, Gärtnern, Imkern, Matrosen und Ingenieuren. Und komme nach den Um- und Irrwegen der narzisstischen egozentrischen Selbstbeobachtung wieder zurück zu den Grundgesetzen des Lebens, die da lauten: 1. Das Leben ist kein Ponyhof. 2. Irgendein Scheiß ist immer. 3. Da steckste nicht drin.

Julia Siebert

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