Ich fläze mich auf dem Sofa, ganz auf ein ruhiges und entspanntes Wochenende ohne Ereignisse eingestellt, surfe auf meinem Smartphone durchs Internet, da schlagen mir die Wellen entgegen: „Erdogan in Köln!“ Heute. Quasi jetzt. Wie bitte?

 


Wo war ich, als alle anderen darüber berichtet, debattiert und sich darauf vorbereitet haben? Während ich hier gemütlich rumlümmele und über Gott nachdenke, ist da draußen womöglich der Teufel los. Ich fühle mich aufgerufen, nach dem Rechten zu sehen, daran teilzuhaben, mich politisch zu engagieren, meine Meinung kundzutun. Aber das kommt jetzt ein bisschen plötzlich, und ich finde nicht den Ansatzpunkt, mich sinnstiftend einzuklinken. Vor allem aber schreckt mich der Gedanke ab, nach erfolgter Revolution stundenlang im Verkehrschaos auf eine Straßenbahn warten zu müssen. Ohne Klo in der Nähe. Eine schöne Rebellin gebe ich da ab! Da warte ich immer auf einen Anlass, mein Heldentum unter Beweis zu stellen, und wenn sich mal einer auftut, passt es mir nicht in den Tagesablauf oder ich fürchte mich vor dem Verkehrschaos. Echte Revolutionäre und Rebellen gehen einfach hin und sind da. Greifen ein– oder an, wenn es nötig– oder unnötig ist. Die hungern und frieren nicht und müssen auch nicht aufs Klo. Um nicht dabei zu sein, verfolge ich via Liveticker die Ereignisse.
Wer weiß, was ich noch alles verpasst habe. Ich schaue mich mal in der Welt um. Ja, richtig, die Europawahlen! Die hatte ich mir in den Kalender als „to do“ eingetragen, jedoch vergessen, mich zu kümmern. Ich weiß noch gar nicht, wen oder was ich wählen werde. Ich möchte schließlich nicht so wählen, wie ich einkaufen gehe: Ohne Einkaufszettel losstolpern, mich vor Ort inspirieren lassen und dann nach Instinkt und Zufallsprinzip irgendwas aus dem Sortiment wählen. Ich lasse mir vom „Wahl-O-Mat“ helfen, aber – wie jedes Mal – bin ich mit dem Ergebnis nicht einverstanden. Also ran an die Wahlprogramme, Meinung bilden!
Nachdem ich die Europawahl so gut wie im Kasten habe, wieder zurück in die Welt. Was passiert grad noch so? Unwetterwarnungen, oha! Richtig schlimme Stürme toben andernorts. Hier wehen bislang nur sanfte Lüftchen, die Ruhe vor dem Sturm? Besser, ich mache die Luken dicht. Das war schnell erledigt, weiter im Text. Kommunalwahlen in NRW. Kommunalwahlen in NRW? Ach, du Schreck, Wahlstress! Jetzt muss ich mich auch noch in die Parteienprogramme meiner Region einarbeiten. Mein ruhiges Wochenende ist endgültig dahin. Ich hoffe, das war es jetzt. Noch ein letztes Ereignis drängt sich auf: Die Artisten des Roncalli-Zirkus spielen gegen die Mitarbeiter der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) Fußball. Oh, da will ich unbedingt hin! Aber das war leider schon, sehr schade. Obwohl es auch ein bisschen peinlich gewesen wäre. „Julia, warst du auch bei der Demo gegen Erdogan?“ „Nein, ich war beim Fußballspiel Roncalli gegen KVB!“ Da outet man sich ja sofort als der unpolitischste Mensch der Welt.
Ich tröste mich damit, dass man heutzutage die Welt via soziale Netzwerke und Smartphone auch vom Sofa aus retten kann. Das Problem ist nur, dass ich mit den sozialen Netzwerken nicht umgehen kann, außer dem Couch– und Internetsurfen nichts zustande kriege und die Ereignisse immer erst mitbekomme, wenn sie aktuell stattfinden oder schon waren. Immerhin bleibt mir, mir eine Meinung zu bilden. Ich wechsle also das Metier und erkläre hiermit meinen Wandel von der Revolutionärin zur Analytikerin.

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