Um einen weiblichen Zahir – nach Paulo Coelho etwas, das man nicht mehr vergisst, wenn man einmal in Natura damit in Kontakt gekommen ist – und die Weiten Kasachstans dreht sich „Der Zahir“ des Bestsellerautors aus Brasilien.

Paulo Coelho schreibe immerfort über dasselbe, wenn er zur Feder greife, so die Tadler eines der meistgelesenen Autoren unserer Tage. An Literaten wie dem Brasilianer Coelho, dessen Werke in über 60 Sprachen vorliegen, scheiden sich die Geister der Literaturkritik. Das erwähnte Argument sticht jedenfalls nicht so leicht, denn für den letztes Jahr weltweit erschienenen Roman mit dem dem Koran entlehnten Titel „Der Zahir“ wählte Coelho eine exotische Einöde als Schauplatz: Kasachstan ist die Szenerie für viele der 300 Seiten des Zahirs – weswegen eine der über 40 Erscheinungssprachen des Buches das Kasachische ist.
Der namhafte kasachische Literat Schumagali Ismagulow übertrug das Buch eigenen Angaben zufolge in knapp zwei Monaten in seine Muttersprache und das in einem Stück. Fasziniert habe ihn der in Paris beginnende Plot, der den Leser über Kroatien in das damals noch Alma-Ata genannte Almaty entführt und ins sagenumwobene Südkasachstan.

Und doch beginnt alles in nahezu typischer, autobiographischer Coelho-Manier. Ein vermeintlich von allen Lebenszwängen losgelöster Kulturschaffender pendelt zwischen Madrid und Paris, verkehrt auf besten Empfängen, gibt Lesungen und schreibt bescheidene Gefälligkeitsarbeiten ohne Belang. Das klingt nach Sorglosigkeit, aber der Erzähler kommt mit sich nicht zu Rande. Er ist auf der Suche nach sich selbst. Abstecher in die Pyrenäen oder auf den Pilgerpfad Jakobsweg führen nicht zum Ziel. Denn der Schlüssel zum Ich des Erzählers führt über den Zahir, und der ist in Kasachstan – aber das weiß er hier noch nicht. Die Hauptfigur Coelhos muss später erst im Atlas nachschauen, um zu wissen, wo sein Zahir zu finden ist. Der Zahir ist Esther, und die ist seine Frau. Sie muss wundervoll sein, denn keine Lebensabschnittsgefährtin nach ihr kommt ihr gleich. Aber Esther war plötzlich auf und davon.

Michail, die mongolische Spur

Nach Entführungsverdacht und Wechselbädern der Gefühle kreuzt Michail mit mongolischen Gesichtszügen auf einer Lesung des Literaten ohne Wissen um Kasachstan auf. Michail ist eigentlich Oleg, aber heute trägt er den Namen eines der vier Erzengel. Man erfährt von der einstigen Zukunftslosigkeit Olegs in Kasachstan. Michail schildert sein einstiges Dasein als Epileptiker, der an Spirituelles glaubt, der Wunder erlebte in einem Land, das lange keine Religion kennen durfte. Heute strahlt der von Mystik und Geheimnissen umwitterte Kasache Michail Kraft, Ruhe und Glauben aus. Nun soll Esther glücklich sein wie er, weil sie in seiner Heimat ist. Alles begann, als Esther ihn als Dolmetscher und als Mensch mit dem Glauben an höhere Dinge aus Kasachstan nach Paris holte. Es ist klar: Michail ist der neue Freund Esthers. Aber ihre Flucht war keine für einen Liebhaber. Auch sie sucht Seelenruhe. Dem Erzähler wird klar, dass Esther nicht einfach so zurückkommen wird. Er will und muss sie suchen.

Michail bremst den Erzähler anfangs in seinem Drang, nach Kasachstan zu reisen. Ohne ihn wäre die Fahrt dorthin sowieso eine Suche nach einer Stecknadel in der Steppe. Michail strahlt Langsamkeit und Ruhe aus. Er spricht lieber über seine Weltsicht. Eine von Stolz und der Spiritualität einer generationenalten nomadischen Kultur, der Tengri-Kultur, geprägte Sicht der Dinge. Eigentlich sucht Coelhos Protagonist nichts von alldem, sondern nur seine Frau. Und deswegen landet er in Almaty.

En passant nimmt der Leser einiges von Zentralasien und Kasachstan mit. Amerikanische Militärbasen und Konflikte brachten die umtriebige Kriegsreporterin Esther in Kontakt mit Zentralasien. Michail erzählt über die Kasachen, deren Stolz auf Steppe und Pferde, die unerwartete Unabhängigkeit, Traditionen wie das „Frauenrauben“ sowie das Aufleben der Religion und vieler Sekten. Er spricht auch über die leidvolle Geschichte seines Landes. Er erzählt vom Sterben des Aral-Sees, von Atomexplosionen, Hungersnöten und der Kollektivierung. Über die Mystik der Weite und seine Tengri-Kultur spricht der Erzengel des Romans aber nicht nur. Er bringt sie auf der Reise in ein entlegenes Nest Südkasachstans und zu Esther nicht nur der suchenden Romanfigur nahe. Der geneigte Leser mag sich fragen, wie Coelho zu all dem Stoff für „Der Zahir“ kam. Dem Coelho-Kenner liegt die Antwort auf der Zunge: Er hat wieder autobiografisch und über seine ausgedehnten Reisen geschrieben.
Coelho reiste vor Erscheinen des Buches selbst von Europa nach Eurasien, von Madrid über Almaty bis in die Steppe Kasachstans. Ihre Weite hat ihn sichtlich beeindruckt.

Esthers neue Heimat

Zuvor bezeichnete Coelho immer sein Heimatland Brasilien als den spirituellsten Fleck Erde.

Einblicke in Kasachstan hat Paulo bekommen, und, seinen Kritikern folgend, mag er wieder über das Gleiche geschrieben haben – über Liebe, Sehnsucht, Obsession und Spiritualität. Doch über dasselbe wie immer hat er mitnichten geschrieben, denn welcher Autor von Weltrang wagt sich schon, über Kasachstan zu schreiben und war zudem noch vor Ort? Im Ganzen bleibt die Frage: Taugt die Steppe für ein Happy-End?

„Der Zahir“ von Paulo Coelho, im Deutschen erschienen im Diogenes Verlag, 2005

Von Gunter Deuber

17/03/06

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