Nora Pfeffer, eine der führenden russlanddeutschen Lyrikerinnen und Kinderbuchautoren, hat am 15. Mai 2012, ihre irdischen Sorgen abgelegt…
Um 16 Uhr hat der Arzt ihrem Bruder Heinz Pfeffer gemeldet, dass ihr müdes Herz aufgehört hat zu schlagen…

Zeitlich ungelegen, unrechtmäßig…

Noch vor kurzem, vor zehn Tagen, habe ich mit Nora telefoniert und ihre Absicht besprochen, ein zweisprachiges Buch von Olschas Sulejmenow, einem namhaften kasachischen Dichter, an dessen Vorbereitung ich ihr helfen sollte, herauszugeben…

Nora Pfeffer gehört zu den begabtesten russlanddeutschen Autoren. Sie hat sich in erster Linie als Kinderschriftstellerin einen Namen gemacht. Aber auch als tiefsinnige Lyrikerin ist sie bekannt, was in ihren Originaldichtungen und in den zahlreichen Übersetzungen zum Ausdruck kommt…

Unser erstes Treffen fand 1976 in Alma-Ata statt, wohin mich das Schicksal als Redakteur der deutschsprachigen Sendungen des Rundfunks Omsk führte. Nelly Hermann – eine liebenswürdige junge Frau, die als Tonregisseurin in der Redaktion der deutschsprachigen Sendungen in Alma-Ata tätig war und mich bei manchem journalistischen Unternehmen unterstützte, erklärte sich auch diesmal bereit, mich zu der namhaften Kinderschriftstellerin zu begleiten.

Nelly hatte sich mit Nora im Voraus über einen Termin verständigt; und so erschienen wir im Domizil der Autorin, in der Dzierzynski-Straße, unweit vom Gebäude des Schriftstellerverbands Kasachstans, pünktlich mit Diktiergerät und allen anderen journalistischen Utensilien ausgerüstet.

Uns empfing eine stattliche, liebenswürdige Mittfünfzigerin. Mit einem freundlichen Lächeln ließ sie uns ablegen und im Arbeitszimmer, das zugleich das Wohnzimmer war, Platz nehmen. Nora Pfeffer erwies sich als sehr gastfreundlich. Wein, Kaffee, Tee – nach Belieben – waren im Nu auf dem Tisch. Frisches und gedörrtes Obst war bald inmitten des nach sowjetischen Verhältnissen geräumigen Arbeitszimmers serviert.

Wichtig war aber die Unterredung. Und das war mehr ein Monolog, in dem sich Nora Pfeffer, wie es mir schien, voll und ganz offenbarte: Dramatische Lebenserfahrungen, inmitten derer der GULag mit all seinen Schrecknissen, dem Hunger und dem Tod, stand, erschlossen sich meinem geistigen Auge – wohl zum ersten Mal – in ihrer unverhüllten Unmenschlichkeit.
Ich hörte aufmerksam zu und schöpfte die pure Lebensweisheit und die außergewöhnliche sprachliche Begabung der Autorin.

Dann kamen Gedichte an die Reihe. Es waren Kinderverse, die alsbald im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt werden sollten; ihnen folgte tiefsinnige dramatische Lyrik…

Wir sind machtlos
der Zeit gegenüber.
Sie zu hemmen,
ist keiner imstande.

Frohe Stunden,
die rinnen vorüber
und versickern
wie Tropfen im Sande.
Aber mag es dich
ja nicht betrüben:
du bewahrst sie
in Herz und Gedächtnis.

Die Erinnerung
ist dir geblieben.
Schlimm und tragisch
wär nur das Vergessen.

Es trug sich zu, dass ich mit Nora Pfeffer später Jahre zusammenarbeiten und viel von ihr lernen durfte.
Und ich danke ihr für die Zeit und die Mühe, die sie mir, einem damals jungen Verlagsredakteur, bei unseren gemeinsamen Sorgen um das russlanddeutsche Schrifttum gewidmet hat.

„Lieber Kostja,
herzlichen Glückwunsch zu Deinem Geburtstag!

Viele kleine Sorgen
machen das Leben seicht…
Viele kleine Tropfen
machen den reifen Wein…

Viele kleine Freuden
machen das Leben leicht…

Viele Freude-Tropfen
soll’n Deine Begleiter sein…

Deine alte Nora.“

Diesen Brief hat Nora Pfeffer mir am 21.03.2012 geschickt…
Und Anfang Mai haben mich von ihr folgende Zeilen erreicht (mit zwei beigefügten Bildern, auf denen Ella Schwarzkopf, Schauspielerin des Deutschen Theaters Alma-Ata und ich mit Nora abgebildet sind):

„Hallo, Kostja! Du siehst auf diesen Fotos wunderschön aus, ich dagegen, furchtbar.
Jetzt finde ich, mit 92 Jahren, seh ich jünger aus, als auf diesem Foto!

Bitte ruf Deinen Bekannten von der kasachischen Botschaft wegen der Originaltexte Olshas Sulejmenows an. Ich wiederhole das telefonisch Gesagte: Ich möchte, dass Du den Redakteur machst, die Gedichte nochmal sichtest und womöglich Dein Vorwort aus dem in Deinem Verlag erschienenen Buch überarbeitest und es der Gegenwart anpasst…
Deine Nora.“

Nach dem Erhalt dieses Briefes rief ich Nora Pfeffer mehrmals an, doch niemand antwortete… Diesen Brief erhielt ich am 08.05.2012 von der Dichterin Agnes Goßen-Giesbrecht, die mit Nora in kollegialer Beziehung stand:

„Lieber Konstantin, ich war gestern bei Nora Pfeffer, sie lag im Bett, konnte nur noch flüstern und wurde künstlich beatmet. Es sieht nicht gut aus mit ihr. Sie muss operiert werden, wartet aber auf ihren Enkel Otar aus Tiflis. Er ist Medizinprofessor, kann aber erst im Juni kommen.
Nora bestellte, Dir einen Gruß auszurichten und zu sagen, dass sie dir nicht antworten kann. Hat alles auf einen Zettel geschrieben, weil ihr das Reden zu anstrengend war. Man kann ihr nur noch per Post schreiben.

Sie hat mir ein Buch von Olschas Sulejmenow mitgegeben mit seinen Zitaten – ist es Deins?
Dazu auch ihre Übersetzungen von Olschas. Ich muss sie mir erst mal anschauen, weil ihre deutsche Version mit Schreibmaschine getippt ist, dabei hatten wir, Rudolf Bender und ich, schon alles gescannt und ich habe alles im PC.

Ich schau mal, ob noch etwas dazugekommen ist, und maile dir dann die Texte einfach. Denn ich weiß nicht, was du ihr versprochen hast und was sie von dir erwartet…
Liebe Grüße, Agnes Goßen-Giesbrecht.“

Nun ist Nora Pfeffer nicht mehr unter uns…

Ich danke dem Schicksal, Nora, dieser begabten Dichterin und wunderbaren Frau begegnet zu sein… Es war wahrlich ein Glück! Und ich bin stolz darauf!

Ein unverlierbarer Besitz bleibt aber uns, den Hinterbliebenen – den Verwandten, Freunden und Kollegen und selbstverständlich den zahlreichen Kennern ihres vielschichtigen lyrisch-philosophischen literarischen Erbes das Leben der Künstlerin selbst voller Leid und Entbehrungen eine russlanddeutsche Tragödie. Eine tiefe Trauer bemächtigt sich meines Herzens.Es blutet…

Meine Seele – die blutet und stöhnt…

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Abschiedswort für Nora Pfeffer

Konstantin Ehrlich

Heute trauert die Welt, –
schwarz – des Firmamentes Zelt.
Wolken zieh’n durch die weinende Flur.
Dieser Abschied ist schlimm, –
es beklemmt mir den Sinn.
Unabwendbar – der Schlag uns’rer Uhr…
Nein, du warst nicht bereit,
von der Welt weit und breit
dich zu trennen. Du hast mal gesagt:
„Ich nutz voll meinen Herbst,
denn man ist – was man erbt.“
Und das war, was du nimmer vergaßt.
Letzter Blick in die Welt –
der Gedanke sich prellt
an die Wand – den verfluchten GULag.
Schrei der Aufseher gellt,
die Polarnacht ist hell. –
Kein Entkommen der Qual und der Schmach.
Nur die Pflicht gibt dir Halt
unter rauer Gewalt.
“Halte durch” – hörst du bitten den Sohn.
Wieviel Tränen verweint
hast im nächtlichen Schein!
Warum hat dich ereilt Satans Hohn?
In der schneeigen Fern’
glänzt ein silberner Stern.
Die Polarwölfin klagt durch die Nacht.
Ihre Kleinen sind fort –
sie verließ kurz den Hort.
Der Zweibeiner sie hasst Niedertracht.
…Deine Leiden durchdring’n
meinen trauernden Sinn.
Der Polarwölfin hör ich Gestöhn.
Schwer fällt mir dieser Tag –
werd’ von Kummer geplagt.
Meine Seele – sie blutet und stöhnt…

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Meine Heimat

Nora Pfeffer

Meine Heimat,
die glyzinienumrankte
Veranda,
die süße Birne, der tote Spatz,
den wir im Garten begruben…
Meine Heimat –
vor allem mein Sohn,
an dem ich schuldlos
in ewiger Schuld verbleibe
für seine mutterlose Kindheit…
Meine Heimat –
auch jene Russin,
die mir die Kartoffeln zusteckte,
als ich dem Skorbut
beinahe schon erlegen war.
Meine Heimat –
jene Deutsche, die mich lehrte,
Fröhlichkeit sei keine Flucht
vor der Traurigkeit,
sondern der Sieg über sie.
Meine Heimat –
Freunde, die mir beistanden
in hoher Not
und mir neidlos gönnen
meine untilgbare Daseinsfreude …

Моя родина

Нора Пфеффер

Моя родина –
Увитая глициниями веранда,
Груша медовой сладости
И тот воробей,
Похороненный в зарослях сада…
Моя родина –
Та русская женщина,
Что тайком от всех
Совала мне картошку,
Когда я изнемогала от цинги.
Моя родина –
Неизбывная печаль о сыне.
Мой вечный перед ним,
Неоплатный долг
За его сиротское детство…
Моя родина –
И та измождённая немка,
Повторявшая часто:
«От печали нельзя убежать,
Но победить её – можно».
Моя родина – люди,
Я преданность им сохраню.
Незнакомым, без зависти,
Радующимся
Моему жизнелюбию …

Перевод Лидии Степановой

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Von Konstantin Ehrlich

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