Nach einem Versuch in Deutschland Fuß zu fassen, leben Aljona und Mischa Riedel jetzt wieder auf einem Bauernhof an der Wolga und sind glücklicher als in Deutschland. Was haben sie hier, was sie in Deutschland nicht hatten?

/Fotos: Jan Balster/

Unweit des Städtchens Marx, da sitzen die Riedels nun wieder in ihrer Hütte. Ein Tisch und zwei Stühle für jeden, den einen, um sich selbst darauf zu setzten, den anderen, um die Beine hoch zu legen und den Tisch, um sich aufzustützen. Mischa und Aljona Riedel schauen hinaus durch das Fenster, welches bis zum Boden ragt. Sie blicken auf ihre beiden Kinder, die vor ihrem Haus tollen. Ihr Blick verliert sich in der Graslandschaft, die am Horizont nicht enden mag. Sie heben die Gläser, gefüllt mit Wodka. Die Gläser klirren aneinander, ex und weg. Ihr Lächeln ist nicht zu verbergen.

„Der Entschluss ein neues Leben aufzubauen, musste erst wachsen.“

„Den Aufnahmebescheid hatten wir 1995 in der Tasche“, beginnt Aljona, „doch den Entschluss, ein neues Leben in Deutschland aufzubauen, der musste erst wachsen.“ Gutes hatten die Riedels viel gehört. Schließlich lebten Aljonas Eltern, die Schneiders, und ihr Bruder schon seit 1994 in Deutschland. Oft wurde Aljona und ihre Familie gebeten, ebenfalls umzusiedeln.

Zuerst kamen die Schneiders nach Köln in ein Wohnheim, wo sie ihren Pflichtdeutschkurs absolvierten. Danach zogen sie nach Düsseldorf und von dort nach Dresden, wo sie recht ordentlich, wie sie heute behaupten, untergekommen waren. „Das Für und Wieder wurde abgewogen“, erzählt Mischa: „Wir haben viel diskutiert, vor allem mit meinen Schwiegereltern.“ Warum nach Deutschland? Familienzusammenführung heißt das Programm. Dann packten die Riedels ihre Koffer, vermieteten ihr Haus und bestiegen in Moskau das Flugzeug, welches „uns in den goldenen Westen brachte.“ Micha lacht und nimmt noch ein Glas, doch nicht ohne seinem Gast ebenfalls einen Wodka anzubieten. „Dass unser Aufenthalt in Deutschland nur ein knappes Jahr andauern würde“, sagt er, „hätten wir uns damals nicht träumen lassen.“ Die Familie hatte sich ihren Aufenthalt, ihre Eingliederung anders vorgestellt.

Alle kannten Deutschland lediglich aus Büchern, Zeitschriften und vom Hörensagen

„Mein Vater“, erklärt Aljona, „wollte unbedingt nach Deutschland.“ Alle kannten dieses Land lediglich aus Büchern, Zeitschriften und vom Hörensagen. Sie wussten, dass es zwei deutsche Staaten gab, einen kapitalistischen und einen sozialistischen Teil. Und sie haben über den Rundfunk erfahren, dass sich dort viel getan hatte in den vergangenen siebzehn Jahren, dass es eine Vereinigung gegeben hat und dass die Menschen glücklich seien jetzt mit ihren Verhältnissen. „Nur, dass es sich um ein kapitalistisches Deutschland handelt“, ergänzt Mischa, „hat man uns verschwiegen.“

„Wir wissen jetzt“, meint Aljona, „was der Unterschied zwischen beiden Systemen war. Dass wir damals keinen Sozialismus hatten, und dass die damalige Regierung dieses kapitalistische System verdammt verharmlost hatte.“

„Meine Mutter hatte hier als Kindergärtnerin gearbeitet“, erzählt Aljona, „sie liebte ihre Arbeit.“ Eigentlich wollte sie diese gar nicht aufgeben. Doch, da der Vater bereits Rentner war und Aljonas Bruder ihm erzählte, dass es den Rentnern in Deutschland besonders gut gehen würde, ließ sich auch die Mutter überreden. „Das ist noch eine Generation“, erklärt Aljona, „wo gemacht wird, was der Mann sagt.“ Vier Monate nach dem Aljonas Bruder mit seiner Familie nach Deutschland übergesiedelt war, folgten nun auch die Eltern.

„Natürlich war es verpönt, sich außerhalb der vertrauten Umgebung deutsch zu unterhalten.“

Aljona Riedel, geborene Schneider, stammt aus dem Städtchen Marx, dem ehemaligen Katharinenstadt. Die Deutschen wurden durch Katharina die Große nach Russland gelockt. Das war im 18. Jahrhundert. Es kamen vornehmlich arme, überschuldete, aber auch mit fundiertem Wissen ausgestattete Bauern und Handwerker in die Wolgaregion. Sie siedelten nicht ohne große Vorteile über, die Befreiung von der Wehrpflicht und eigener Grund und Boden waren mindestens dabei. Damals wurde ausschließlich deutsch gesprochen. Es gab deutsche Schulen und Kirchen. Doch den folgenden Zaren waren die Privilegien der Deutschen auf ihrem Territorium ein Dorn im Auge. Erst unter Lenin wandte sich das Blatt wieder zu ihren Gunsten.

Eine eigenständige autonome Republik der Wolgadeutschen wurde gegründet. Allerdings waren viele dieser Deutschen gar nicht mehr dafür, hatten sich doch die beiden Völker, zumindest in den Städten, schon sehr vermischt. Erst 1991und 1992 konnten zwei deutsche nationale Rayons im Altaigebiet und bei Omsk gegründet werden. „Natürlich war es verpönt“, berichtet Mischa, „sich außerhalb der vertrauten Umgebung deutsch zu unterhalten.“
„Aber Angst davor“, fügt Aljona hinzu: „hatten wir nicht. Die Russen sind doch unsere Freunde.“ Die Angst rührt mehr aus der Zeit Stalins, der Zeit der großen Säuberungen, und zog sich bis zur politischen Wende 1990 hin.

Zu diesem Zeitpunkt verfügte ein Gesetz unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin, dass die Russlanddeutschen wieder ihren eigenen Rayon bekamen. „Damals wurde viel verändert“, meint Mischa: „zu dieser Zeit floss viel Geld. Russland wollte seine Schulden mindern und die Regierung von Helmut Kohl holte uns mit luftigen Versprechungen nach Deutschland.“
„Der Grund, warum wir nach Deutschland sollten“, ergänzt Aljona: „ist uns heute noch nicht klar.“

„Im Rayon Omsk“, sagt Mischa, „wollten die Russlanddeutschen Herrn Kohl sogar ein Denkmal bauen.“ Soweit er weiß, ist es nicht genehmigt worden.

„Eigentlich war es ein sozialer Abstieg“

In Deutschland kamen die Riedels zunächst nach Hamm in ein Übergangsheim. Zwei Monate später bezogen sie eine 52-Quadratmeter-Wohnung für vier Personen. Das konnten sie sich leisten. Das Übergangsgeld fiel mit 320 Euro pro Person für Ihre Familie recht üppig aus.
„Wir bekamen sogar das Geld für unsere Anreise aus unserem Dorf erstattet“, berichtet Aljona. Auch der sechsmonatige Sprachkurs, den die Familie mühelos absolvierte, wurde ihnen bezahlt. Dann begannen die Schwierigkeiten. Ihre Arbeitssuche gestaltete sich schwierig.

„Ich bekam eine Stelle als Erzieherin zugewiesen“, erzählt Aljona. Eigentlich war es eine Umschulung, ein sozialer Abstieg eben, denn sie hat in Russland als Lehrerin gearbeitet. Eine Arbeit, die sie sehr liebte.

„In Deutschland gab es so viel, was man nicht durfte“, erklärt sie weiter, „da wird kaum Liebe gegeben, da ist nur ein Job. Beim Mittagsschlaf durften die Kinder nicht ausschlafen, sie wurden geweckt, wenn die Zeit um war.“ Und Aljona erzählte von Kindern, die zur Mittagszeit kein Essen bekamen, weil ihre Eltern nicht bezahlt hatten. Vor allem seien sich die Erzieherinnen nicht einig: Was die eine verbot, erlaubte eine andere sofort. Da seien die Kinder kaum noch zu halten, beklagt sie. „Und den Kindergarten musst du bezahlen“, ergänzt ihr Mann, „für alles musst du bezahlen.“ Immer jemanden um Hilfe bitten, das lastete sehr auf der Familie. Die alltäglichen Fragen bereiteten Ihnen Probleme. Wo bekommt man einen Rechtsanwalt her? Wo kann man ein Formular ins Russische übersetzen lassen? An welcher Schule kann man die Kinder anmelden? Welches Finanzamt ist für uns zuständig? Und vor allem, was kostet das alles?

„In Deutschland konnten wir nicht eigenständig sein“

„Wir mussten bei Null anfangen“, murmelt Mischa, während er sich ein neues Glas mit Wodka füllt. Besonders der soziale Kontakt gestaltete sich in Deutschland viel schwieriger als in ihrem Dorf, wo beinah jeder jeden kennt. Wo man keinen Termin benötigt, um beim Nachbarn zum Tee eingeladen zu werden. „Wir waren in Deutschland verdammt einsam“, bemerkt Aljona, „besonders als wir dann eine eigene Wohnung hatten.“ Ein halbes Jahr später zogen die Riedels endlich zu ihren Eltern nach Dresden. Zu diesem Zeitpunkt stand ihr Entschluss, nach Russland zurückzukehren, bereits fest. „In Deutschland konnten wir nicht eigenständig sein“, sagt Mischa. Er besaß in der Nähe von Marx einen eigenen Bauernhof mit Viehzucht. Der Umgang mit den Tieren war sein Lebenselixier. In Deutschland bekam er gar keine Arbeit.
„Dabei will er anpacken“, beteuert Aljona: „Dieses ewige Nichtstun machte Mischa ganz schön zu schaffen.“ Mit der Zeit wurde er immer stiller. „Nicht einmal der Wodka wollte mir mehr schmecken“, gibt er zu und füllt sich erneut das Glas: „Auf Russland und die Wolga.“
„Ich machte mir richtige Sorgen um ihn“, gesteht Aljona. Diese Unselbständigkeit belastete Mischa enorm. Er wollte nur noch zurück nach Russland. Aljona hingegen wäre noch ein wenig länger in Deutschland geblieben. Doch auch die beiden Kinder waren unglücklich. In Hamm und auch in Dresden wohnten die Riedels an einer Hauptstraße, so konnten sie nicht raus. Besonders Georg, der älteste, wurde nervös, ein unausgeglichenes Kind. „Als wir wieder an der Wolga waren“, lächelt Aljona, „da war das alles wie weggeblasen. Sie haben ihre Freunde wieder und sind überglücklich.“

„Die gebratenen Hühner fliegen einem nicht ins Maul“

Was hat ihr nun in Deutschland gefallen? Sie berichtet von der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Frauen, räumt gleichzeitig allerdings ihr mangelndes Selbstbewusstsein ein.

Da bemerkt sie schon einen Unterschied zwischen Hamm und Dresden. In Ostdeutschland sei das Auftreten der Frauen etwas selbstsicherer, weniger gekünstelt als im Westen. Sie spricht von Vorzügen, die sie auch in ihrem Dorf gern hätte, wie eine Waschmaschine oder eine Fernheizung. Manchmal sei das Leben in Russland sehr anstrengend, da müsse sich die Frau um vieles kümmern, die Kinder betreuen, das Haus pflegen und die Tiere versorgen. Trotz den kleinen Schwierigkeiten an der Wolga, steht Aljona kritisch dem klischeehaften Bild vieler Wolga- und Russlanddeutschen gegenüber. „Auch wenn das Leben in Deutschland bequem ist“, meint sie, „die gebratenen Hühner fliegen einem nicht ins Maul.“

Arbeit finden die meisten nur schwer, nicht mangels Bildung, da können sie locker mithalten, sondern mangels Deutschkenntnissen.

Heute leben die Riedels wieder in Russland. Ruhig fließt die Wolga dahin. Tagein, tagaus treibt Mischa seine Herde Kühe auf die unendlich scheinenden Weideflächen. Liebevoll gibt er den Kühen einen Schlag auf ihre Hinterteile.

„Das mache ich jeden Tag“, erzählt Mischa freudestrahlend, „Ich stehe mein ganzes Leben im Mist.“ Auch Aljona hat ihre alte Stelle als Lehrerin wieder bekommen. Es geht ihnen gut, sie fahren ein Auto und jedes Jahr einmal in den Altai zum Urlauben.

„Was die Zukunft bringen wird, wie sich Russland entwickelt, das weiß ich nicht“, sagt Mischa: „Doch so lange wir noch bei Kräften sind und unseren Kopf zu gebrauchen wissen, so lange werden wir hier leben. Es ist schön, zu Hause zu sein.“

„Na sdarowje“, verkündet Aljona, und die beiden heben ihre Gläser, gefüllt mit Wodka, ex und weg.

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Der Autor, Jan Balster, arbeitet als Bild- und Reisejournalist, u.a. von ihm erschienen: „Zu Fuss von Dresden nach Dublin“, ISBN: 978-3-89793-124-4; weitere Informationen: www.auf-weltreise.de

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Von Jan Balster

21/12/07

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