Boris Dschaparow hat fünf Jahre lang das Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan geleitet. Ende Juli ging der studierte Ingenieur in Pension. Im Interview spricht er über aktuelle Themen für deutsche und kasachische Forscher sowie das Erbe der Deutschen in Kasachstan.

Welche Dokumente, die die deutsche Minderheit betreffen, gibt es im Archiv des Präsidenten?

Im Archiv lagern Dokumente der politischen Geschichte Kasachstans aus den vergangenen 100 Jahren. Hier werden alle wichtigen Dokumente der führenden Parteiorgane Kasachstans und des Komsomol seit der Gründung der Sowjetunion aufbewahrt. Nach der Unabhängigkeit kamen weitere Dokumente aus der Präsidialverwaltung, des Außenministeriums, der Volksversammlung Kasachstans, des Weltverbandes der Kasachen sowie der ethnokulturelle Vereinigungen, darunter auch der deutschen, hinzu.

Aus den historischen Kontakten zwischen Deutschen und Kasachen ist eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland und deutschen Forschern erwachsen. Es gibt eine Menge Archivdokumente, die Beweise für wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Kontakte sind. Sie zeigen das Zusammenleben zweier ethnischer Gruppen auf dem Gebiet des heutigen Kasachstans. Die ersten Unterlagen stammen aus der Zeit, als sich durch die Stolypin-Reformen Bauern aus dem europäischen Teil des Russischen Reiches, darunter auch ethnische Deutsche, hier ansiedelten.

Eine umfassende Sammlung haben wir auch zu den Massendeportationen im
20. Jahrhundert. In diesem Jahr wurde der dritte Band „Aus der Geschichte der Deportation. Kasachstan. 1939-1945“ herausgegeben. Er enthält auch Dokumente über Zwangsumsiedlungen der Deutschen nach Kasachstan. Die elektronische Version ist über die Webseite des Archivs zugänglich.

Sind die Deportationen im Zweiten Weltkrieg noch immer ein aktuelles Thema?

Zweifelsohne. Sie sind nicht nur für die Angehörigen der verschiedenen Ethnien interessant, die sich für die Geschichte ihrer Familie oder ihres Volkes interessieren, sondern auch für Historiker. Die Anfragen sind enorm: aus den Staaten der GUS, den USA, Europa und Asien. Meiner Ansicht nach werden die Fragen zum Zweiten Weltkrieg noch lange aktuell bleiben, und das betrifft nicht nur die Deportationen. Auf dem Gebiet Kasachstans gab es unter anderem Lager für deutsche, japanische, italienische, rumänische Kriegsgefange. Viele von ihnen sind hier begraben worden. Diese Materialien teilen wir mit unseren deutschen Kollegen.

Unsere Archivare interessieren sich wiederum für Dokumente über die Schicksale der Kasachstaner, die auf deutschem und polnischem Boden gefallen oder in Gefangenschaft geraten sind. Vor drei Jahren ging die Website tutkyn.kz online. Dort erhält man Zugriff auf eine Datenbank, die die Namen kasachstanischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg enthält. Wir konnten etwa 36.000 Kasachstaner identifizieren, die man früher nicht einmal beim Namen nennen durfte. Kriegsgefangene galten nach einem Gesetz von Stalin als Verräter. Diejenigen, die aus der Kriegsgefangenschaft in die Sowjetunion zurückkehrten, wurden dort wieder in Lager gesteckt und als Volksfeinde bezeichnet. Darunter hatten auch ihre Angehörigen zu leiden.

Welche Projekte werden gemeinsam mit Deutschland realisiert?

Vor zwei Jahren wurde in Deutschland entschieden, ehemaligen Kriegsgefangenen eine Entschädigung in Höhe von 2.500 Euro zu zahlen. Das Archiv des Präsidenten hat bei der Sammlung von Dokumenten für 17 Veteranen geholfen.

Außerdem wurde eine Partnerschaft mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. und dem Deutschen Historischen Institut in Moskau geschlossen. Der Volksbund wurde in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Ziel gegründet, die Gräber der deutschen Kriegstoten im Ausland zu erfassen, zu erhalten und zu pflegen. Nach Angaben des Innenministeriums der UdSSR sind auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ca. 230.000 deutsche Kriegsgefangene begraben. Inzwischen sind viele Gräber allerdings nicht mehr erkenntlich, daher ist es unsere Aufgabe, diese zusammen mit den deutschen Kollegen aufzuspüren und für eine ordnungsgemäße Pflege zu sorgen.

Unser nächstes Projekt wird eine Serie über die Geschichte des Verbleibs Deutscher in Kasachstan sein, gemeinsam mit einem Forschungszentrum in Göttingen. Es sollte bereits vor drei Jahren beginnen, doch fehlten die finanziellen Mittel. Jetzt hat die Konrad-Adenauer- Stiftung Interesse an dem Projekt gezeigt.

Wie sieht Ihr persönliches Fazit der Arbeit im Archiv des Präsidenten aus?

Nach meiner Ernennung zum Direktor des Archivs waren alle sehr erstaunt: Als bekannter Forscher und Ingenieur sollte ich plötzlich Dokumente archivieren? Allerdings bin ich Professor für Systemanalyse und vor mir stand die Aufgabe, das erste elektronische Archiv in Kasachstan zu entwickeln. Schließlich altern Dokumente unabhängig von den Lagerbedingungen.

Da ist zum Beispiel der Brief von Achmet Baitursynow an Lenin, das ein einzigartiges Schriftstück aus dem 20. Jahrhundert darstellt. Außerdem gibt es Briefe, die während des Zweiten Weltkriegs in Frontzeitungen veröffentlicht wurden. Es ist sehr wichtig, die reiche Geschichte unseres Landes für zukünftige Generationen zu sichern. Daher gehört der elektronischen Archivierung die Zukunft. Sie erlaubt nicht nur die Speicherung der Originaldokumente, sondern auch einer unbegrenzten Zahl an Nutzern überall auf der Welt diese einzusehen.

Das Interview führte Olesja Klimenko.
Übersetzung aus dem Russischen: Lisa-Marie Lang

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