Wahrscheinlich hätte ich allein wegen der unfreundlichen Lebensmittelfachverkäuferinnen in den Geschäften vor 1989 gegen den Sozialismus gekämpft. Meine Eltern erzählten mir von ihnen, denn weder vom Sozialismus noch vom Postsozialismus habe ich bewusst etwas mitbekommen.

îIm Universitätsseminar zur Postsozialismusforschung habe ich eine Arbeit über eine amerikanische Ethnologin geschrieben, die Anfang der neunziger Jahre in einem kleinen ostdeutschen Dorf lebte. Nun, das habe ich auch viele Jahre meines Lebens getan, aber einen akademischen Titel erhält man dafür nur, wenn man ein Buch darüber schreibt. Ethnologen nennen das Sichhineinbegeben in eine fremde Kultur, das Beobachten und Analysieren, „Feldforschung”. Manchmal tippt mein Freund mich an und macht mich darauf aufmerksam, dass ich, mit geöffnetem Mund, jemanden minutenlang anstarre. Dann sage ich: „Aber ich mache doch eine Feldforschung.” Ich versuche, mir die absurden, traurigen, komischen und peinlichen Situationen, die ich in der Welt beobachte, in der ich lebe oder die ich bereise, in mein Gedächtnis einzubrennen. Manchmal aber wünsche ich mir nur eine Videokamera, die, klein und unauffällig, unkommentiert alles aufnimmt.

Einen Dokumentarfilm wäre mein Lebensmittelgeschäft im Prospekt Respubliki in Astana wert. Da ich der einzige Mensch in Astana bin, der fast täglich einen schweren Rucksack bei sich trägt, muss die Garderobenfrau meinen „Rjuksak“ in die Regale hieven. In einem Pixar-Trickfilm würde ich sie als eine dicke Schnecke animieren, doch sie sitzt ganz real und analog hinter einem U-förmigen Regalsystem, dessen obere Ablage ihr bis zum Kinn reicht. Dort hinüber gibt der Kunde seine Tasche ab und erhält eine Marke. Ich kann die Bewunderung, die ich fast täglich für diese Dame empfinde, nicht leugnen. Sie bringt enorme Anstrengungen auf, um meine Tasche von oben hinter den Tresen zu heben, ohne aufzustehen. Die Ärmchen strecken sich, der Atem schnauft.

Der junge Sicherheitsmann, den ich dann passiere, hat die Aufgabe, mich zurückzupfeifen, hätte ich den Rucksack nicht abgegeben. Er telefoniert. Da alle Verkäuferinnen in meinem Lebensmittelgeschäft eine identische Uniform tragen, sind sie schnell zu überblicken. Vor kurzem überschlug ich ihre Anzahl, denn sie sind omnipräsent. Auf eine Verkäuferin kommen etwa sechs Quadratmeter Einkaufsfläche. Aber wieviel Tenge Kaufkraft kommen auf einen Quadratmeter? Und wieviel bleibt am Ende für eine Verkäuferin? Nun bin ich ein Mensch, der sich leicht ärgert, vor allem über Verkäuferinnen. Ich reagiere gereizt auf gelangweilte Körperhaltungen, Handybenutzung im öffentlichen Raum, minimale Bewegungsgeschwindigkeiten, Hände in den Schürzentaschen, unangemessene körperliche Annäherung. Ich werde nicht gern beobachtet und entscheide mich für oder gegen den Kauf eines Produktes so gründlich, dass man mich für einen Ladendieb halten könnte, der seinen geplanten Diebstahl als Nachdenken tarnt. Kurz, es ist eigentlich ein Rätsel, wie ich es in den letzten fünf Monaten geschafft habe, etwas einzukaufen.

Wie? Weil ich vor Betreten des Geschäftes meine Ethnologenhaltung einnehme. Einkaufen ist Feldforschung. Ist Erkunden, ist meinungsloses Beobachten. Manchmal frage ich mich aber dann, was ist das denn, der Postpostsozialismus? Wann ist er lange genug vorbei und vergangen? Kommt er irgendwann irgendwo an? Ich würde ihn gern in mein Geschäft schicken.

Maria Reinhardt

07/03/08

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