Nursat Tschinteminowa nutzte das Projekt für lange Gespräche mit ihrer Mutter, die ihr über ihren eigenen Vater, Nursats Großvater Satar, erzählte. Die ganze Familie wurde telefonisch mobilisiert, um Informationen über den Urgroßvater zu erhalten.

„Es ist schwierig, mich an meinen Vater zu erinnern“, beginnt Kuluipa Kurmanbajewa das Gespräch. Die 53-jährige Frau lebt mit ihren vier Kindern und ihrem Mann in Dschalalabad, im Ferganatal. Sie ist das vierte von neun Kindern in ihrer großen Familie.
„Der Name meines Vaters hat eine eigene Bedeutung und seine Geburt ist eine spannende Geschichte“. Kuluipa erzählt die Geschichte sehr gerne.
Ihre Großeltern haben nacheinander zehn Kinder bei der Geburt verloren. Als ihr Vater geboren wurde, ließen die älteren Frauen im Dorf ihre Großmutter ihr Kind nicht sehen. Damals gab es kein Krankenhaus. Die Frauen gebaren in ihren Häusern. Kuluipas Vater war sehr schwach bei der Geburt; er war so klein wie eine Hand. Solche Kinder wurden damals in einem Kalpak (kirgisischer Hut) aufgezogen. Warum, weiß sie nicht. Sie vermutet, dass es eine Tradition oder einfach Aberglaube war.
 
Das „verkaufte Kind“
 
Nach der Geburt wurde das Kind der Mutter von einer alten Frau im Dorf weggenommen. Sie passte ein paar Wochen auf ihn auf, dann brachte sie ihn wieder zurück zu seiner Mutter. So wurde ihm sein Name „Satar“ gegeben, d.h. „das verkaufte Kind“. Früher hatten viele Namen Bedeutungen.
„Katzen haben sieben Leben“, heißt es. Kuluipas Vater hatte zwei: „Mein Vater ist einmal gestorben und wieder zum Leben erweckt worden.” Ein erstes Mal starb er, als er klein war. Zumindest glaubte man, dass er tot war. Der Tradition nach sollte jedes gestorbene Kind gewaschen und in weißen Stoff gewickelt werden. Als die Leute das umwickelte Kind ins Grab legen wollten, bewegte es sich plötzlich. ,,Viele Leute sagten, dass er lange leben würde, leider wurde er nur so alt, wie der Prophet” (Mohammed starb mit 63 Jahren)“.
Kuluipas Vater erzählte später, dass er in diesem Moment einen Traum hatte. Er sah einen Stern und wollte ihn fangen. Aber als er ihm nachrannte, traf er einen alten Opa mit langem weißen Bart. Der gab ihm eine Ohrfeige und sagte „Geh nach Hause! Du kannst die Sterne nicht einholen.“ So begann er, sich zu bewegen. Die Leute sagten Kuluipas Großmutter, dass ihr Sohn wieder lebte. Fast hätte sie den Verstand verloren.
„Meine Großeltern waren Kirgisen. Sie sind 1916-1917 während des mittelasiatischen Aufstands gegen die russische Herrschaft aus Naryn, einem Hochgebirge in Kirgisistan, nach China geflüchtet. Als es in Kirgisistan wieder ruhiger wurde, kehrten sie zurück. Auf dem Rückweg haben sie sich in Usgen, im Ferganatal, niedergelassen.“ Kuluipa weiß genau, wie ihre Eltern nach Usgen ausgewandert sind, weil ihr Vater die Familiengeschichte oft erzählt hatte. Er wollte, dass seine Kinder wissen, von welcher Uruu (Abstammung) sie sind.
 
„Sonkoi“ – Der Riese
 
Kuluipas Vater wurde 1935 im Dorf Donud Too geboren. Seine Familie war sehr arm. Man arbeitete als Diener bei reichen Leuten und musste jede Arbeit annehmen, die einem angeboten wurde. So verbrachte er zwar seine Kindheit mit seinem Vater in den Tälern bei reichen Leuten, doch konnte er nicht die Schule besuchen, weil seine Eltern es nicht wollten, dass er weit weg vom Zuhause sei. Das einzige überlebende Kind wollten die Eltern in ihrer Nähe haben.
„Sonkoi (Der Riese) nannten die Kameraden meinen Vater“, führt Kuluipa die Geschichte etwas schüchtern und aufgeregt fort. Als ihr Vater 16 Jahre alt war, rannte er fort, ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen. Er ging in eine Schule, trat in die Klasse herein und sagte laut: „Agai (Lehrer), ich will auch lernen, unterrichten sie mich auch!“ Zu der Zeit ging die Schule nur bis zur vierten Klasse. Die Schüler lernten dort, bis sie elf oder zwölf Jahre alt wurden. Nachdem er so gesprochen hatte, lachte die ganze Klasse laut auf, weil der Sonkoi endlich zur Schule kam, um zu lernen. Mit seinen 16 Jahren war er zwar schon ziemlich groß, aber der Agai erlaubte ihm zu lernen. Er setzte sich hinten hin, zu den Erstklässlern. Es gab nur einen Raum, und drinnen gab es vier Reihen: Eine für jede Klassenstufe. Aber Kuluipas Vater war sehr fleißig und schaffte es in einem Jahr, vier Klassen abzuschließen.
„Meine Mutter war ein allgemein beliebtes Mädchen und es gibt viele lustige Geschichten über sie“, erzählt Kuluipa, vor Freude lächelnd. Kuluipas Mutter Aisada wuchs in einer vermögenden Familie auf. Als sie sieben Jahre alt wurde, ging sie zur Schule und war Klassenälteste. Als Sonkoi zur Schule kam, war sie in der vierten Klasse. Er arbeitete mit seinem Vater in ihrer Wirtschaft. Er und sie kamen aus zwei ganz unterschiedlichen Welten. Einmal, als Sonkoi zur Arbeit kam, stand Aisada dort mit einem großen Stück Brot und Zuckerbonbons in der Hand und lachte ihn aus. Damals war es für jedes Kind ein Traum, Zuckerbonbons zu essen.
 
Lieben und Leben
 
„In der Schule beginnt die Liebesgeschichte meines Vaters“ – erinnert sich Kuluipa mit gerötetem Gesicht. Sie verliebten sich, während sie auf der Bühne in der Schule ein Liebespärchen spielten. Aber Sonkoi konnte sie nicht heiraten, weil er arm war. Deswegen entführte er sie. Aber ihre Eltern waren dagegen. Doch als Aisadas Vater in den Krieg zog, meinte er zu seiner Frau, dass seine Lieblingstochter eine schöne Hochzeit haben soll, bevor er ginge. So heirateten die beiden, obwohl Aisada erst 13 Jahre alt und Sonkoj schon 18 war. Sie wusste damals gar nicht, was ein Mann ist. Sie schlief bei ihrer Schwiegermutter und spielte mit ihr Top-Tasch (ein kirgisisches Spiel mit Steinen, typisch für Frauen).
„Obwohl mein Vater arm war, hat er in seinem Leben so manches erreicht. Er hat sich viel Mühe gegeben, um seine Familiengeschichte zu ändern, damit wir aufwachsen konnten, ohne zu wissen, was Armut ist“ – erzählt Kuluipa beseelt mit Tränen in den Augen.
Ihr Vater war Jäger, Händler, Schäfer und Imker. Als er in den Bergen lebte, waren die Einwohner seines Dorfes oft von der Außenwelt abgeschnitten. Er handelte auf der Seidenstraße und wanderte bis nach Usbekistan (Ferghana, Kokand, Karakalpakstan), Russland (Kasan) und Kasachstan. Er tauschte seine Walnüsse, getrocknete Früchte und Honig gegen andere Waren und brachte im Gegenzug neue Kleidung und Werkzeuge mit.
„Er war glücklich, außer dass er keinen Sohn bekommen hatte, wie er ihn sich gewünscht, so gewünscht hat“ – mit diesen traurigen Worten endet Kuluipa ihre Erzählung. Das erste Kind haben ihre Eltern nach der Geburt verloren. Als Zweites kamen Zwillinge und auch die konnte Aisada nicht gebären. Letztendlich bekamen sie insgesamt acht Töchter und einen Sohn.
Leider ist Kuluipas Vater an Krebs gestorben, als er 63 Jahre alt war. Heute sind noch sechs seiner Töchter am Leben. Aber alle Töchter haben viele Kinder und leben glücklich, über ganz Kirgisistan verstreut.
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