Wenn man eingehender über das Denken nachdenkt und überlegt, von wie vielen Faktoren unser Denken gesteuert wird, kommt man mit Erschrecken zu dem Schluss, dass im Grunde von einem freidenkenden Wesen nicht mehr viel übrig bleibt. Da grübelt und sinniert man stunden-, tage- und jahrelang vor sich hin, was man wie am liebsten dächte, täte oder ließe.

Dabei wird unser Willen umzingelt, gesteuert und gegängelt von den Hormonen und Neuronen, der Mondfülle und Sternenstellung, der Werbung, den Pawlowschen Reflexen, von Kultur und Sozialisation, um nur das zu nennen, was mir spontan in den Sinn kommt. Im zweiten Gedankengang fügen sich noch das kollektive Gedächtnis und die Urinstinkte aus der Steinzeit zu den Willensbildern beziehungsweise –beugern. Ja, und wenn man im dritten Gedankengang noch den Erdboden verlässt, um sich in die spirituelle und esoterische Welt zu begeben, dann ist einem das Schicksal ohnehin vorbestimmt. Oder so. Ja, und wo bleibt dann noch Raum für den Verstand?? Erschreckend! Man kann sich eigentlich die Grübelei komplett sparen. Wie zuletzt. Da war mir irgendwie komisch zumute, ich war knatschig, zickig, rührselig, schlecht drauf, hatte Schlafstörungen, war müde und träge, um nur die wesentlichen Malessen zu nennen. Ein großer Anlass, um über mich und mein Leben nachzudenken und darüber, wo dieser Zustand der Unzufriedenheit und Unpässlichkeit herkommt. Ob ich zu viel arbeite oder das Richtige mache, ob ich mehr Sport treiben sollte, ob ich lieber auf dem Land als in der Stadt wohnen sollte, ob in meinem Freundeskreis alle an der richtigen Stelle stehen und so weiter und so fort. Darin findet sich viel Potenzial für existenzielle Umwälzungen, denen ich Gott sei Dank nicht praktisch konkret nachgegangen bin. Denn einen Tag später stellte sich heraus: Es war Vollmond! Mein Ex-Freund hat immer, wenn sich diese Stimmung andeutete, in seinem Kalender nachgeschaut und festgestellt: „Aha! Vollmond!“ Er klappte seinen Kalender mit einem schroffen Schnapp zu, und damit war für ihn die Sache – also mein Weltschmerz – erledigt. In meinem Kalender schaute er nach, ob meine Tage im Anflug wären. Was meinem Unmut noch einen draufsetzte. Zu all dem Leid kam nun noch dazu, dass mein Freund mich nicht verstand oder ernst nahm. Denn das Problem an so einer Stimmung ist, dass man, so lange man IN dieser Stimmung ist, nicht in der Lage ist zu reflektieren, dass es ja nur Vollmond ist. Denn wie will die eindimensionale Ratio gegen dieses komplex und tief gefühlte Elend ankommen! Und wenn es dann wieder vorbei ist, sieht man ein: Verdammt, schon wieder diese verflixten Hormone oder was auch immer! Was einen leider nicht davor bewahrt, das Theater beim nächsten Mal wieder neu aufzuführen und zu durchleben, als hätte man nicht schon zum zigsten Mal… Da hilft eigentlich nur eine verlässliche Größe: ein Freund mit Nerven aus Stahl.

Julia Siebert

27/02/09

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