Ich war sechs Jahre alt, als meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich Kasachstan verließen, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Nach fast zwei Jahrzehnten kehrte ich nun in mein „Heimatdorf“ Karabulak zurück, um herauszufinden, was an meinen Kindheitserinnerungen dran ist, und um neue Eindrücke zu sammeln. Ein Reisebericht.

Bereits bei meiner Ankunft auf dem neuen Flughafen in Almaty, der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans, hatte ich mich darauf gefreut, in das kleine Dorf Karabulak zu kommen, welches etwa 300 Kilometer nördlich liegt. Ich wollte eine Ahnung davon bekommen, wo ich geboren wurde und wo meine Eltern aufgewachsen sind, sich kennen gelernt und geheiratet haben. Ich wollte mal bewusst an diesem Ort gewesen sein und alles mit den Augen und dem Verstand eines Erwachsenen erleben. Seit fast 18 Jahren lebe ich nun in Deutschland, und selbst die wenigen Kindheitserinnerungen verblassen allmählich. Ich führe ein ganz anderes Leben, als das, welches man in Karabulak führen könnte, und frage mich oft, was aus mir geworden wäre, wenn sich meine Eltern damals nicht dazu entschieden hätten, als russlanddeutsche Aussiedler nach Deutschland auszuwandern.

Die Erinnerungen verblassen

Zwei andere deutsche Praktikanten, die ich nach einem Monat Redaktionspraktikum in Almaty kennen gelernt hatte, begleiteten mich auf dieser Reise. Bevor wir nach Karabulak fuhren, verbrachten wir noch einen Tag in der Gebietshauptstadt Taldykorgan. Diese Stadt ist nicht wie Almaty. Sie schien uns ein wenig trostlos, obwohl vieles neu gebaut oder renoviert wurde, nachdem der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew im Jahre 2001 festgelegt hatte, sie solle fortan die Hauptstadt des Gebietes Almaty sein. Für meine Eltern war sie damals DIE Stadt. Für Behördengänge, medizinische Versorgung und urbanes Amüsement musste man in das 16 Kilometer entfernte Taldykorgan fahren.

Als wir nach vierstündiger Fahrt an einem Samstag dort ankamen, nahmen wir uns ein Hotelzimmer, gingen ins Kino, aßen und tranken in einem Cafe, welches mit europäischer Küche warb, jedoch nur drei Gerichte zur Auswahl hatte: Lagman – ein kaukasisches Nudelgericht, Pelmeni – sibirische, tortelliniähnliche Fleischtaschen und Borschtsch – eine ukrainische Suppe aus roter Beete. Meine deutschen Mitreisenden fragten mich oft, ob mir die Gegend oder die Stadt bekannt vorkämen und ob ich mich irgendwie heimisch fühle. Aber außer dem Lagman, den Pelmeni und dem Borschtsch, welche es auch zu Hause in Ostwestfalen sehr oft gab, waren mir, genau wie allen anderen Ausländern, Taldykorgan und auch Almaty sehr fremd. Als wir 1988 nach Deutschland zogen, war ich schließlich erst sechs, und meine Erinnerungen beschränken sich auf unser Haus und das meiner Großeltern, unseren Garten und die Straße, in der wir wohnten.

„Russkije nemzy“

Am Sonntagmorgen organisierten wir uns ein Taxi und fuhren nach Karabulak. Vor meiner Abreise nach Kasachstan hatte Vater mir auf einem DinA3-Blatt eine Skizze des Dorfes gezeichnet: Die Hauptstraße, die als einzige gepflastert ist, die Siedlung in der wir damals wohnten – benannt nach dem russischen Dichter Gogol, den Friedhof, wo die Eltern meiner Mutter begraben sind, und die Zuckerfabrik, in der meine Oma arbeitete. Wir haben in Karabulak keine Verwandten mehr, und meine Eltern mussten lange überlegen, um mir einen Namen und eine alte Adresse von Bekannten mitzugeben – für alle Fälle.

Der Taxifahrer, der uns nach Karabulak brachte, wollte oder konnte mit der Skizze meines Vaters nichts anfangen. Und so ließen wir uns am Busbahnhof absetzen, um von dort aus die wichtigsten Orte meiner Kindheit zu finden. In einem kleinen Geschäft erkundigten wir uns nach der „Gogolja“ und erreichten schließlich, nach einem kleinen Fußmarsch, die Straße, welche nach der Unabhängigkeit Kasachstans als eine der wenigen nicht umbenannt wurde. Wir gingen die meist sehr kleinen und für deutsche Verhältnisse teilweise verfallenen Häuser entlang, während wir von neugierigen Blicken der Dorfbewohner verfolgt wurden, und spürten, dass wir als Ausländer nicht zu übersehen waren. Manche sprachen uns an und wollten wissen, ob wir „russkije nemzy“, Russlanddeutsche, seien. Eine Frau erzählte uns, als wir sie nach den Hausnummern 20 und 25 fragten, dass sie auch deutscher Nationalität sei und eigentlich ausreisen wollte, doch leider die Deutschkenntnisse für den seit 2005 geforderten Sprachtest nicht reichten. Wir merkten schnell, dass Besucher aus Deutschland nicht allzu selten und somit nicht ungewöhnlich sind. Jedes Jahr reisen viele russlanddeutsche Aussiedler nach Russland oder Kasachstan, um Verwandte oder Freunde zu besuchen. Auch nach Karabulak, wo damals viele „russkije nemzy“ wohnten.

Typisch deutsch

Wir gingen an einem Haus vorbei, welches mir auf den ersten Blick sehr bekannt vorkam. Ich blieb kurz stehen und inspizierte es, während die anderen beiden weiter gingen, ohne zu merken, dass ich kurz verweilte. Zwei große Hunde knurrten und bellten auf dem kleinen Hof, der von einer mannshohen Stahlpforte vor Fremden geschützt wurde. Das Haus war viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, und obwohl es die Nummer 29 und nicht wie erwartet die 25 trug, war ich mir sicher: Es war das Haus meiner Großeltern väterlicherseits, die ebenfalls schon lange in Deutschland leben. Als kleines Kind war ich sehr oft hier und unser Haus war ganz in der Nähe, jedoch noch nicht zu sehen. Den Weg dorthin bin ich immer gerannt, wie meine Großmutter gerne erzählt.

Als die anderen beiden merkten, dass ich nicht mehr hinter ihnen war, und sich umdrehten, kam ich ihnen bereits hinterhergelaufen. Ich wollte endlich unser Haus sehen und würde später den Hof meiner Großeltern noch mal genauer begutachten.

Das für kasachische Begriffe typisch deutsche Haus, welches mein Vater damals für seine Familie baute, sieht fast noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die blaue Umrahmung der Fenster, der für meinen Vater charakteristische, in eigenwilligem Stil entworfene Stahlzaun, der im Gegensatz zu den meisten anderen Hofabgrenzungen in Karabulak geradezu freundlich und einladend wirkte, der kleine gepflasterte Vorhof und die slawisch anmutenden blauen Verzierungen an den Eckseiten der Außenwände. Gleichzeitig ist es wirklich typisch deutsch, weil es zwei Stockwerke und das charakteristische Spitzdach hat. Wie ich erst bei dieser Reise erfahren habe, war es schon immer in ganz Karabulak als das hübsche zweistöckige Haus bekannt…

Von Helmut Tiede

01/09/06

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