In meinen Jahren bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung habe ich von vielen schicksalsgeprägten Geschichten über deportierte deutsche Familien erfahren. Ihre Schicksale sind meist ähnlich, unterscheiden sich lediglich durch Familien– und Ortsnamen. Das tragische Schicksal traf das ganze deutsche Volk, und es scheint, als könne die Zeit den Schmerz der schrecklichen Ereignisse nicht lindern, und es auf die Frage, wozu das alles geschehen musste, keine Antwort gebe…

Unser heutiger Gast ist Gabriel Schirmer. Während er mir seine Geschichte erzählt, bemerke ich mit Verwunderung, dass sich in seinen Worten keine Spur von Erbitterung oder Vorwürfen widerspiegelt. Auch ersetzt er das in der Geschichte des deutschen Volkes stets präsente Wort „Deportation“ durch „Evakuierung“. Und das, obwohl seine Familie innerhalb von 24 Stunden enteignet und in einem Güterwagen nach Sibirien geschickt wurde.

Gabriel erinnert sich gerne an die sibirische Familie, die sie nach den Strapazen der Reise und des einmonatigen Umherirrens bei sich aufgenommen hatte. „Es herrschte Krieg, und alle hatten es schwer“, so erklärt der Augenzeuge die schrecklichen Ereignisse von 1941. Vermutlich hatte er das Glück, auf seinem Lebensweg auf viele gutmütige, mitfühlende und anständige Menschen zu treffen. Menschen, die ihm halfen, die schwierige Zeit durchzustehen, nicht zu verbittern und nach vorne zu schauen.

„Ich hatte drei Geschwister und lebte mit meiner Familie in der Region Krasnodar. Meinen Vater haben sie bereits 1937 geholt, ich als der Jüngste war zu dem Zeitpunkt erst vier Jahre alt, und keiner von uns sah ihn daraufhin je wieder; meine Mutter zog uns alleine groß. In unserem Dorf lebten neben den Deutschen auch Menschen vieler anderer Nationalitäten. Bedauerlicherweise erinnere ich mich kaum an das Leben vor der Evakuierung. Aber diesen einen Oktobertag, an dem sie Pferde bei uns abstellten und uns 24 Stunden gaben, um unsere Sachen zu packen, werde ich nie vergessen.

Wir nahmen nur das Notwendigste mit. Sie brachten uns zu den Eisenbahnschienen und teilten uns auf die Güterwagen auf, vier bis fünf Familien pro Wagen. Bis Novosibirsk fuhren wir einen gesamten Monat: zwei Tage fuhren wir, dann hielten wir, denn es waren auch viele Militärzüge unterwegs, die zuerst durchgelassen wurden; danach fuhren wir wieder einige Tage lang – und so kamen wir erst nach vier Wochen in Nowosibirsk an.

Nach unserer Ankunft wurden wir abgeladen, und aus den umliegenden Dörfern kamen Einheimische, um uns und die anderen Familien bei sich aufzunehmen; so lebten wir einige Monate bei einer sibirischen Familie, bis man uns in die Kolchosen aufteilte. Die Zeit in den Kolchosen assoziiere ich heute mit ständiger Arbeit, denn es musste jeder arbeiten – ob jung oder alt, gesund oder krank, so auch die Kinder. Ich erinnere mich, wir pflanzten immer viele Kartoffeln, und im Frühling suchten die Kinder auf den Feldern nach von der Ernte übriggebliebenen Kartoffeln, und aßen halb verfaulte, damit sie wenigstens irgendwie ihren ständigen Hunger stillen konnten. Sie sammelten auch Melden und Brennnesseln, woraus sie wenigstens irgendeine Art Suppe machen konnten.

Meine Schwester Anna und mein ältester Bruder, 1918 und 1923 geboren, wurden in die Arbeitsarmee einberufen; die drei Kinder meiner Schwester blieben in der Obhut meiner Mutter. Mein Bruder Sascha und ich konnten diesem Schicksal dank unseres Alters entgehen. 1943 kam es aufgrund von Hunger, Krankheiten und Kälte zu einem Massensterben in unserem Dorf; auch Mutter erkrankte und starb bald darauf. So war ich mit meinen zehn Jahren zum Vollwaisen geworden und musste mit meinem Bruder so gut wie möglich allein über die Runden kommen. Nach Kriegsende kehrte mein ältester Bruder aus der Arbeitsarmee im Gebiet Uljanowsk zurück; er war ganz krank und erschöpft und starb kurz darauf.

Auch meine Schwester Anna, die während der gesamten Kriegszeit in einem nahegelegenen sibirischen Werk gearbeitet hatte, kehrte zurück; sie überlebte meinen Bruder nur um wenig. Die schwere Arbeit und die unerträglichen Bedingungen in der Arbeitsarmee hinterließen ihre Spuren und die Gesundheit versagte; Anna starb an einer Lungenentzündung.

Mein Bruder Sascha und ich durften das Dorf auch nach Kriegsende nicht verlassen und mussten uns einmal pro Monat bei der Kommandantur melden, bis ins Jahr 1956 hinein. Wir hielten immer zusammen.Nach der Abschaffung der Kommandantur verließen immer mehr Leute das Dorf. Sascha war der Erste, der aus Sibirien wegfuhr, um nach einem besseren Ort zu suchen. Während einer Zugfahrt erfuhr er von einer Zufallsbekanntschaft von der Stadt Almaty und beschloss, dorthin zu fahren.

1957 war die Neulandsepopöe zu Ende und in den 1. Wohnbezirk Almatys sollte ein Fuhrpark überstellt werden, und dafür wurden Fahrer gesucht. So begann mein Bruder als Fahrer zu arbeiten, und zwei Jahre später, nachdem er sich eingelebt und mich für die Fahrausbildung angemeldet hatte, folgte ich ihm aus Nowosibirsk nach Almaty. Sobald ich die Ausbildung abgeschlossen hatte, arbeitete ich ebenso beim Fuhrpark, 15 Jahre lang, bis ich in einen Industriebetrieb überging. Zu dieser Zeit gab es in Almaty sehr viele Deutsche, vor allem im Fuhrpark.“

In Almaty gründete Gabriel auch eine Familie; er hat drei Kinder und sechs Enkel. Viele seiner Verwandten leben heute in Deutschland, doch Gabriel hatte nie den Gedanken, Almaty zu verlassen. Kasachstan bezeichnet er als seine Heimat, wo er seinem Berufsleben nachging, als Fachmann anerkannt wurde, seine Kinder und Enkel großzog. Den Problemen des Lebens tritt er mit Optimismus entgegen, eine Kunst, die einen nur die Erfahrung lehrt.

Olesja Klimenko

Übersetzung: Sabrina Kaschowitz

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