Das Portrait von Paul erzählt eine nicht ganz gewöhnliche deutsch-kasachische Familiengeschichte, und wir erhalten Einblicke in das Leben, das die Auswanderer nun nach einer Generation in Deutschland führen.

Paul – ein sympathischer junger Mann, 25, dunkle Haare, sportlich-schick gekleidet. Man merkt sofort, dass er sich gut auf das Interview vorbereitet hat. „Ich habe gestern nochmal mit meinem Vater telefoniert und nach ein paar Details gefragt. Da waren noch ein paar Lücken in meiner Familiengeschichte,” gibt der Student der Wirtschaftswissenschaften, der mittlerweile in Dortmund lebt, offen zu. Kein Wunder, kann man doch die Wurzeln seiner Familie väterlicherseits bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, als seine Vorfahren aus dem Badischen in das Gebiet der heutigen Ukraine ausgewandert sind. Damals noch auf Einladung Katharina der Großen.

1905 packte man wieder sein Hab und Gut zusammen, um erneut sein Glück an anderer Stelle im Russischen Reich zu suchen. Man versprach der Familie mit einem Umzug tief in den Osten, in die Nähe von Kustanai, das Doppelte des Grundbesitzes, den sie zuvor an der Wolga besessen hatte. So zog man in das Dorf Semjonowka, nicht weit von Kustanai. „Das müssen harte Zeiten gewesen sein, gerade für die Generation meines Urgroßvaters. Das Land war nicht sehr fruchtbar, das Leben war hart. Dann, mit dem Zweiten Weltkrieg, wurde es noch schlimmer. Die Deutschen waren der Feind und mussten Zwangsarbeit in der Trudarmija leisten.”

Glückliche Jugend in Kasachstan

Doch auch diese schwere Zeit ging vorbei und nach Stalins Tod ging auch die Repression gegenüber den Deutschen zurück. Pauls Vater wurde Landmaschinenschlosser, ging zur Armee. Später lernte er seine Frau, eine Buchhalterin aus dem Nachbardorf kennen. „Meine Eltern blicken gerne auf die Zeit in Kasachstan zurück. Wenn sie erzählen, hab ich immer das Gefühl, sie hatten eine erlebnisreiche, glückliche Jugend”, erzählt Paul. Man lebte zusammen mit der Familie im eigenen Haus und hatte, wie damals üblich, noch ein wenig Landwirtschaft neben dem Beruf.

Dennoch entschloss man sich 1992, wie schon so manches Mal in der Geschichte der Familie, seine Heimat zu verlassen und in der Ferne sein Glück zu suchen. Die Großeltern waren schon ein Jahr zuvor nach Deutschland gegangen, der kleine Paul war aber gerade erst geboren und so kam der Rest der Familie ein Jahr später nach. Die neue Heimat war die beschauliche Kleinstadt Ulrichstein im hessischen Vogelsbergkreis. Zunächst bezog man, wie alle Spätaussiedler, eine provisorische Unterkunft, ein ehemaliges Hotel im Ort. Die Eltern belegten trotz Sprachkenntnisse einen Deutschkurs und begannen bald zu arbeiten. „Meine Eltern haben gerade in der Anfangszeit wirklich sehr viel gearbeitet. Man wollte sich möglichst schnell unabhängig machen und sich etwas Eigenes aufbauen. Um mich haben sich in der Zeit oft meine Großeltern gekümmert.”

So zog man noch kurz darauf aus dem Heim in eine Mietwohnung. Doch sehr bald begann die Familie sich ein Eigenheim zu bauen – trotz der Vollzeitjobs der Eltern. Auch die Familien von zwei Onkeln und einer Tante bezogen eigene Häuser in der gleichen Straße: So war man in der neuen Heimat gleich unter Freunden.

Paul bekam noch eine Schwester und wurde eingeschult. „Ich hatte eine ganz normale Kindheit, wie alle anderen deutschen Kinder auch. Ich hatte keine Erinnerung mehr an Kasachstan, ich kannte ja nichts anderes. Klar in der Grundschule war man manchmal ‚der Russe’, aber das war mir auch egal. Ich hab mich ganz normal als Deutscher, später dann als Europäer gefühlt.”

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Die Frage, ob es in seinem Umfeld eine Art kasachstandeutsche Parallelgesellschaft gibt, verneint Paul. „Vielleicht ein bisschen bei den älteren Leuten, die bleiben unter sich. Auch meine Eltern haben sehr engen Kontakt zu ihrer Familie und zu den Freunden aus der Heimat. Aber sie haben schon deutlich mehr als ihre Elterngeneration mit den Einheimischen zu tun.” Bei den jungen Leuten in seinem Alter sei der Unterschied kaum noch zu spüren. „Klar gab es auch Kreise, in denen Jugendliche anfangs untereinander Russisch gesprochen und sich selbst als ‚Russen’ identifiziert haben, aber auch diese hatten später deutsche Freunde. Heutzutage ist das kein Thema mehr.”

Doch auch wenn die Integration in die deutsche Gesellschaft, gerade bei der Jugend, so weit fortgeschritten ist, gibt Paul zu, dass man einige Unterschiede noch bemerken kann. „Im Vergleich zu meinen deutschen Freunden wurde ich schon etwas strenger erzogen. Und ich glaube auch, dass die Werte in russlanddeutschen Familien insgesamt etwas konservativer sind als in bundesdeutschen.” So spielt die Familie auch heute noch eine sehr zentrale Rolle im Leben der Aussiedler. Ob er selbst bald heiraten wolle, wie es in Kasachstan in seinem Alter üblich wäre? „Nein, nein. Da warte ich lieber noch. In dieser Beziehung bin ich ganz deutsch.”

Paul, der nie Russisch gelernt hat, fühlt trotzdem eine gewisse Verbindung zu dem Land, in dem er geboren wurde. Gerne würde er einmal mit seinen Eltern zusammen nach Kasachstan reisen. „Einmal das Dorf sehen, aus dem meine Familie kommt, wäre schon sehr interessant.” Seine Zukunft sieht er aber definitiv in Deutschland oder in einem anderen Land der Europäischen Union. „Ich bin hier aufgewachsen und fühle mich hier wohl. Und durch die Freizügigkeit in Europa habe ich hier einfach die besseren Chancen.”

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