Neulich war ich gezwungen, in der Straßenbahn in Mannheim einem Streit zuzuhören. „Selbst meine Großmutter schämt sich für ihre Generation! Die Alten heutzutage haben überhaupt keinen Respekt mehr vor den Jungen!“, warf eine etwa 30-jährige Frau einer Rentnerin mit Gehhilfe vor.

Diese hatte sich beim Einsteigen in die Straßenbahn leise über die junge Frau beschwert, die mit ihrem Koffer im Weg stand und nicht sofort ausweichen wollte.

Ich komme aus Kasachstan. Einem Land, in dem jeder, der in einer Straßenbahn oder einem Bus nicht sofort aufspringt, um einem auch nur etwas Älteren seinen Platz anzubieten, beschimpft wird. Wo in manchen traditionellen Familien selbst Eltern von ihren Kindern gesiezt werden und niemals ein Jüngerer einem Älteren das Du anbieten würde.

Egal, ob im beruflichen oder privaten Kontext. Entsprechend irritierte mich diese Auseinandersetzung. Ältere Menschen sind in meiner Welt unantastbar. Ich halte ihnen die Tür auf, lasse sie an der Kasse vor und biete ihnen sofort meinen Sitzplatz in der Straßenbahn an. Weil für mich Respekt vor älteren Menschen so selbstverständlich ist, hatte ich mich noch nie gefragt, ob auch von Älteren Respekt gegenüber Jüngeren verlangt werden sollte.

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Woher kommt es eigentlich, dass wir gealterte Menschen respektieren (sollten)? Im Alten und Neuen Testament beispielsweise erreichen nur herausragende Persönlichkeiten ein hohes Alter. Methusalem wurde knapp 1000 Jahre alt, Noah 950 und Abraham hat es auf unglaubliche 175 Jahre gebracht. Ihr biblisches Alter ist Ausdruck einer besonderen Gnade Gottes: Er belohnt ein sinnvoll geführtes Leben mit einer besonders langen Lebensspanne. Entsprechend ist der hohe Respekt vor dem Alter tief in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt. Ebenso in der muslimischen: Der Islam fordert vor Eltern und allen Älteren beinah ebenso viel Achtung wie vor Gott.

Eine Schrift im Koran besagt: „Wenn du deine Eltern enttäuschst, enttäuschst du Allah.“ Ein respektvoller Umgang gegenüber Älteren sorge so dafür, dass deren Wissen und Erfahrungen mit Dankbarkeit von der jüngeren Generation angenommen und weitergetragen werden. So ist es verständlich, dass in Kasachstan als einem überwiegend muslimischen Land der Respekt vor Älteren eine herausragende Rolle spielt. Aber vom Alter abgesehen fordert der Glaube an Gott – unabhängig von der Religion – Liebe und Achtung gegenüber allen Lebewesen.

Die junge aggressive Frau aus der Straßenbahn suchte offensichtlich nur Streit: Sie trug über fünf Haltestellen quer durch Mannheim viele unsinnige Argumente vor, um ihre These, die Alten von heute seien auch nicht mehr das, was sie mal waren, zu stützen. Trotzdem steckt ein nicht falscher Aspekt hinter ihrer Anfeindung der Rentnerin gegenüber. Ich mache in der Straßenbahn Platz für Ältere. Genauso aber würde ich auch jeder Schwangeren, jedem Menschen mit einem Gipsbein oder einem Kleinkind auf dem Arm meinen Sitzplatz ohne nachzudenken anbieten. Dabei geht es mir nicht um alt oder jung.

Ich respektiere einfach, dass es für den anderen Fahrgast beschwerlicher ist als für mich, in einer wackelnden Bahn zu stehen. Damit zeige ich nur, dass ich den anderen wahrnehme, seine Situation nachempfinde und ihn als Menschen wertschätze. Respekt nicht allein vor Älteren, sondern vor jedem Menschen – egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder Alters – ist folglich wichtig. Deshalb: Ja, auch Ältere sollten Respekt vor Jüngeren haben und sie ebenso behandeln wie sie selbst behandelt werden möchten.

Irina Peter wurde in Astana geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Sie studierte Literaturwissenschaften und arbeitet derzeit als freie Kommunikationsberaterin in Mannheim.

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