Über 850 junge Frauen werden in Kirgisistan jährlich entführt und zur Heirat gezwungen; mehr als eine Million junger Kirgisen versuchen in Russland Geld zu verdienen. Jugendträume bleiben dabei auf der Strecke.

Sie heißt C., über 20, verheiratet. Für die Einheimischen sieht sie aus wie Tausend andere Mädchen aus dem Land ihrer Herkunft. Runde schwarze lächelnde Augen, schwarze kurzgeschnittene Haare, klein von Wuchs. Momentan arbeitet sie als Kassiererin in einem Lebensmittelgeschäft in einer Stadt in Russland, in Sibirien. Sie arbeitet im Schichtbetrieb: von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr des nächsten Tages steht sie 24 Stunden an der Kasse, dann wird sie von einer anderen Kollegin abgelöst. Danach fährt sie todmüde mit dem Bus in ihr gemietetes Zimmer in einem Außenberzirk und schläft für ein paar Stunden ein. Gegen Abend steht sie auf und geht in ein anderes, kleineres Geschäft, wo sie erneut bis 8 Uhr früh als Verkäuferin und Kassiererin arbeitet. Um 8 Uhr kommt ihre Schwägerin und löste sie ab. Sie geht dann wieder in das Geschäft im Zentrum. So verlaufen die Tage, einer wie der andere, grau und kalt.

Fern der Heimat

Seit sie hierhergekommen ist, ist es draußen kalt und man friert bis unter die Knochen. Aber den Weg in ihr zeitweiliges Haus und wieder zur Arbeit muss sie jeden Tag zurücklegen. Wie lange sie noch bleiben wird, ob sie eines Tages nach Hause zur ihren Kindern und Eltern fahren kann oder ewig bleiben muss, um Geld zu verdienen, weiß sie nicht. Eigentlich hat sie sich damit abgefunden, dass sie Tag und Nacht arbeiten, Geld verdienen und sich nie erholen wird. Es war immer so. Seit sie von dem Bruder ihrer Freundin als Braut geraubt wurde, hat sie keine Rast gehabt. Die Schwägerinnen und die Schwiegermutter, dann auch der Schwiegervater müssen gepflegt werden, sie müssen etwas zum Essen haben usw.

Sie hatte auch schöne Zeiten gehabt. Ja, früher. Sie war glücklich und hatte Tausende Pläne für die Zukunft. Sie dachte, sie werde in einem Büro arbeiten, vielleicht im Bereich Wirtschaft. Da sie sich in der Schule sich begabt zeigte, schickten ihre Eltern sie an ein Gymnasium mit mathematischem Schwerpunkt in der Stadt. Als sie noch in ihrem Heimatdorf zur Schule ging, träumte sie immer davon, eine Weltreise zu machen, nach Paris zu fahren, um den Eiffelturm zu spazieren, die Leute ringsherum die „Sprache der Liebe“ sprechen zu hören und dann nach Griechenland zu fahren. Griechenland, so dachte sie, müsste unbedingt Teil ihrer Weltreise sein. Als in der 5. Klasse das Fach Geschichte auf den Stundenplan kam, wurde das alte Griechenland dort als erstes Thema besprochen. Sie fand das Land faszinierend, schon wegen der verschiedenen Götter, Paläste und Statuen. Die Lehrerin nannte es „die Wiege der Zivilisation“. Sie wollte immer das, was von dem einst ruhmreichen alten Griechenland und deb Römern geblieben ist, mit eigenen Augen sehen…

Die Welt des Geldes

Aber all die Träume und Pläne waren zum Scheitern verurteilt. Die alte Tradition hat ihre schöne Welt zerstört und sie mit der harten Realität konfrontiert. Ihr Schiksal unterscheidet sich nicht von den über 850 Mädchen, die laut der öffentlichen Statistik dieses Jahr in Kirgisistan entführt und dann zur Heirat gezwungen wurden. Das, was ihr nach der Heirat passierte, unterscheidet sich auch nicht von den anderen über eine Million Jugendlichen des Landes, die jetzt wie sie in Russland auf der Suche nach irgendeinem bezahlten Job sind, um ihren Eltern zu helfen oder einen guten Start ins Erwachsenenleben zu schaffen.

Die Welt, in der sie jetzt lebt, kreist ums Geld. Sie muss viel Geld verdienen, damit ihre Schwiegereltern sich endlich vom Kredit- und Zinsjoch befreien können. Dann muss sie für ein eigenes Haus Geld verdienen. Sie will unabhängig von allen leben und mit ihren Kindern eigenes Leben führen. Ob ihr Mann dabei sein wird oder nicht, interessiert sie nicht.
Früher hatte sie Pläne und Träume, die sie vom Rest unterschieden. Jetzt ist sie nur eine aus dieser Schar, die ihr Glück im Geldverdienen sucht und es zu finden glaubt.

Von Mirlan Satkynbajew

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