Man denkt, man kennt die Leute. Denkste! Man wird immer wieder überrascht, weil man sich erstens sowieso meist ein falsches Bild macht und sich zweitens die Leute sowieso stetig weiterentwickeln. Je näher man jemanden zu kennen glaubt, desto größer der Überraschungseffekt.

Meinen aktuellen Überraschungseffekt beschert mir mein Bruder. Mein Bruder ist ein zähes Bürschlein, der sich immer schon bester Gesundheit erfreut, topfit bis zum Gehtnichtmehr ist und folglich nie groß gelitten und gejammert hat. Insofern war er auch jahrzehntelang nicht beim Arzt, weder bei Spezialisten noch bei einem Hausarzt, nicht mal beim Zahnarzt. Das sei vollkommen überflüssig, befand er. Was seinen Lebenswandel anbetrifft, kenne ich ihn als jemanden, der sich kleidet, um nicht zu frieren und isst, um nicht zu hungern. Eher so der praktische, pragmatische Typ. Tja, und nun hat sich ihm ein Türchen zu einer neuen Welt geöffnet, die er in Windeseile und Riesenschritten betritt. Und ich kann kaum folgen.

Den eigentlichen Anstoß gab seine Sehschwäche, die dem Älterwerden geschuldet ist, so dass selbst mein unbezwingbarer Bruder einsehen musste, dass auch ein starker Körper nachlässt und dass es Einbußen gibt, die sich langsam einschleichen, die er nicht auf Anhieb erkennt und für deren Einschätzung so was wie ein Experte hinzugezogen werden sollte. So unterzog er sich bei einem Heilpraktiker aus Vorsorgegründen einem Komplett-Check. Sie haben den letzten Satz jetzt einfach so gelesen, als wäre es ein normaler Satz. Aber Moment, noch mal zurück und noch mal von vorn: Mein BRUDER denkt über VORSORGE nach. Und geht zu einem HEILPRAKTIKER. Und macht einen KOMPLETT-Check. Das ist schon mal eine kleine Sensation für sich, aber es geht noch viel weiter.

Seit mein Bruder beim Heiler war, beschäftigt er sich ausführlich mit gesunder Ernährung. Und er spricht über fast nichts anderes mehr. Und er beachtet sogar die Regeln. Mit Disziplin und Konsequenz. Und ohne zu jammern und zu murren. Und das, obwohl er gar keine Beschwerden hat. Voll der Shooting Star! Und jetzt ist die Geschichte immer noch nicht zu Ende, denn sein Heilpraktiker hat herausgefunden, dass er eine Glutenunverträglichkeit hat. Teilte er mir zuletzt nüchtern mit. Sofort spendierte ich all mein Mitleid, weil Gluten in vielen Lebensmitteln enthalten ist, die recht lecker sind. Allein, mein Bruder war nicht empfänglich für Mitleid. Was ihm nicht bekommt, isst er nicht. Basta. Er rief nicht an, um zu jammern, sondern um mir zu raten, das testen zu lassen, weil die Wahrscheinlichkeit hoch sei, dass seine Verwandten das auch hätten. Nun brauchte ich mein Mitleid für mich selbst. Unverträglichkeit? Verzichten?! Oh Schreck!

Vorsorglich versorgte mich mein Bruder schon mal mit Sachinfos. Bitterstoffe wären gut, und die wären vor allem in sehr bitteren Papayakernen zu finden. Ich suchte Trost in dem Plan, die bösen bitteren Kerne in den süßen Früchten eines buntgemischten Fruchtsmoothies verstecken zu können. Nein! befindet mein Bruder, er fahre „die harte Tour“. Mein Bruder, der tapfere Held! Und ich stehe daneben als die undisziplinierte, trotzige Heulsuse. Aber größere Brüder müssen tapferer und wissender sein als ihre kleinen Schwestern. Ich bin geneigt, die Prüfung der Glutenverträglichkeit zu schwänzen, fürchte aber, dass mein Bruder in neuer Rüstung streng nachbohren wird, ob ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Vor seiner Metamorphose war mein Bruder irgendwie pflegeleichter.

Julia Siebert

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