Der Mensch wünscht sich, dass ihm andere Menschen „gut“ zuhören. Denn der Mensch spricht sich gern aus. Dafür braucht er offene Ohren, Geduld, Zeit und Mitgefühl von seinen Gesprächspartnern. Das ist viel verlangt, sehr viel.

 

Aus Perspektive des Erzählers habe ich hohe Ansprüche an meine Gesprächspartner. Da ich nicht alles doppelt und dreifach erzählen und meine Gedanken von Gespräch zu Gespräch fortspinnen möchte, erwarte ich, dass meine Zuhörer sehr aufmerksam und interessiert sind, meinen Gedanken folgen und sich diese merken. Sie sollen kluge Kommentare einbringen, ohne mich jedoch in meinen schlauen Gedankengängen zu unterbrechen. Wenn es mal dramatisch zugeht, erwarte ich selbstredend angemessene Betroffenheit, Mitgefühl in allen Lebenslagen sowieso. Für ungenaue oder unpassende Gedanken möchte ich respektvoll kritisiert werden, aber nicht zu oft und nicht zu arg. Angemessen eben. Meine Gesprächspartner nehmen idealerweise Stimmungen auf und können auch zwischen meinen Zeilen lesen. Ich möchte auch
bitteschön nicht gehetzt werden, etwa durch heftiges Nicken. Um die richtigen Worte zu finden, brauche ich eben Zeit und möchte Gesprächspausen machen dürfen, ohne dass diese sogleich vom Gesprächspartner okkupiert und gefüllt werden. Themenwechsel auf dem Höhepunkt der Spannungskurve sind strengstens verboten. Das alles soll mein Zuhörer können und beachten. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?!
Doch, ist es! Die letzten Male, als ich beleidigt war, weil man mir nicht so zuhörte, wie es sich gehöre, habe ich mich selbstkritisch gefragt: Warum eigentlich sollten sich andere geduldig und aufmerksam zutexten lassen müssen? Ein Dialogpartner hat ein Recht darauf, sich nicht alles in Ellenlänge anhören zu müssen. Natürlich darf er sich gegen Redeschwälle wehren und verteidigen; sogar, wenn es meine sind. Auch, welche Mittel und Waffen er dazu wählt, steht ihm frei. Das half mir, nicht mehr so beleidigt zu sein. Und wenn ich an andere Kulturen denke, zum Beispiel an Russland, Italien oder Spanien, dann erinnere ich mich daran, dass sich dort die Leute gut und gerne ins Wort fallen. Es reden immer mindestens zwei Leute gleichzeitig. Der lauteste setzt sich durch. Ausredenlassen gehört da nicht zum guten Ton. Aber keiner ist beleidigt!
Frisch geläutert, möchte ich sogleich meine neu entdeckten Rechte als Zuhörerin in Anspruch nehmen und muss mir nun ein passendes Set an Abwehrmethoden zusammenstellen. Ich bin geradezu erleichtert, dass ich mich künftig nicht mehr von unkultivierten Rednern auf dem Sessel festmonologisieren lassen muss, wenn sie penetrant ignorieren, dass es mich nicht vom Hocker reißt und sie mich als aufmerksame Zuhörerin erst quälen und dann verlieren. Manche quasseln mir die Ohren voll, bis mir der Schädel platzt. Wenn ich einhaken will, reden sie lauter und schneller, meine Einwendungen werden schon im Keime erstickt. Ich bin das Publikum und soll stille schweigen, während andere mit wahren, verfälschten oder komplett erfundenen Heldentaten ihr Ego vor meiner Nase tanzen lassen. Das mach ich jetzt nicht mehr mit! Ich versuche es zunächst mal mit Auf-Durchzug-Schalten, Insgeheim-Abdriften, Rumzappeln, Weggehen, Unterbrechen und drastischem Themenwechsel. Damit muss ich zwar mein Qualitätssiegel als „gute Zuhörerin“ wieder abgeben, dafür gewinne ich aber ganz viel Zeit, Nerven und Freiheit. Wenn das mal nicht besser als ein Siegel ist!

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