Ein Stück Bochum in Almaty

Das Ruhrgebiet im Westen Deutschlands hat seinen ganz eigenen Charme. Unser hat Autor hat dort studiert und kürzlich ein Stück Bochum in Almaty gefunden.

Bochum war nur eine kurze Station in meinem Studentenleben. Ich war nicht lange Student an der Ruhr-Universität, doch ich denke gerne an diese Zeit zurück: an mein Studentenzimmer in der Arbeitersiedlung Bochum-Stahlhausen, an die angeblich beste Currywurst der Welt, an das krachbittere Bochumer Fiege-Pils und an die ganzen raubeinigen, schrulligen aber herzensguten Menschen im Ruhrgebiet.

Vor Kurzem habe ich im wahrsten Sinne des Wortes ein Stück Bochum in meiner neuen Wahlheimat Almaty entdeckt. Hinter den großen Bäumen der Dostykstraße versteckt, stehen hier alte, graue Straßenlaternen aus Sowjettagen. Man muss schon genau hinsehen, um zu entdecken, dass alte Eisenbahngleise in den Laternen verbaut sind. Wohl ein klassisches Beispiel von Improvisation und Resteverwertung in der Mangelwirtschaft der immer klammen Sowjetunion. Besonders spannend wird es, wenn man sich diese Gleisstücke einmal genauer ansieht. Auf einem dieser Gleise findet sich die Aufschrift „BVG BOCHUM 1888 X“.

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BVG Bochum ist das Kürzel des weltbekannten „Bochumer Vereins für Bergbau und Gussfabrikation“. Ein Unternehmen, welches im Jahr 1854 aus der Gussstahlfabrik Mayer und Kühne hervorging. Der Bochumer Verein stieg zum Ende des 19. Jahrhunderts, neben der Familie Krupp aus Essen, zu einem der wichtigsten Stahlfabrikanten auf. Die Entwicklung war seinerzeit auf den Einsatz von modernen Produktionstechnologien zurückzuführen. Davon zeugt bis heute die sogenannte Rathausglocke auf dem Bochumer Rathausplatz. Die 15 Tonnen schwere Glocke wurde im Jahr 1867 vom Bochumer Verein erstmals „aus einem Guss“ gegossen und war die Sensation auf der Pariser Weltausstellung desselben Jahres.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts ging es dem Bochumer Verein aufgrund von stark gestiegener Konkurrenz und Anschaffung von Produktionsanlagen durch Bankkredite finanziell schlecht. Auf den Kaufmann Louis Baare, Manager des Bochumer Vereins, geht die Bildung eines Schienen-Kartells in dieser Zeit zurück, dem schließlich alle wichtigen Schienenlieferanten, wie Krupp, Phoenix oder die Dortmunder Union angehörten. Baare war es auch, der durch eine fortschrittliche Sozialpolitik erste Vorläufer von Unfallversicherungen für Arbeiter einführte und die Sozialsiedlung Stahlhausen errichtete. Ebenjene Siedlung, in der ich mehr als 100 Jahre später selbst wohnte und die Werkshallen des Bochumer Vereins aus meinem Fenster sah. In diesen Werkshallen werden bis heute Schienen und Räder für Züge und Straßenbahnen hergestellt.

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Nun, hinter diesem geschichtlichen Hintergrund wurde das Schienenstück im Jahre 1888 hergestellt. Aber wie ist die Schiene überhaupt bis nach Almaty gekommen? Diese Frage ist weit schwieriger zu beantworten. All die Straßenlaternen, die auf diesem Abschnitt der Dostykstraße stehen, sind aus alten Schienenstücken hergestellt, die allerdings Inschriften wie „Stalinwerke“ und Herstellungsjahre zwischen 1920 und 1950 aufweisen. Diese Schienenstücke könnten von frühen, inzwischen abgebauten Abschnitten der Turksib-Magistrale stammen, die Südrussland mit dem Süden Kasachstans verbindet. Was das Schienenstück aus Bochum angeht, lässt sich eher vermuten, dass sie als Reparationsleistung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderem technischen Gerät in die Sowjetunion kam und schließlich auf irgendwelchen Wegen nach Kasachstan gelangte. Aber nachprüfen lässt sich das nicht mehr.

Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser, als man glaubt; tief im Westen, du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau, du liebst dich ohne Schminke, bist ’ne ehrliche Haut“. So singt es der Künstler Herbert Grönemeyer, den, wie ein Musikexperte einmal sagte, die „Aura des gnadenlos Bürgerlich-Bodenständigen“, umgibt, in seiner Hymne an die Stadt Bochum im Jahr 1984. Bis heute wird das Lied vor Fußballspielen des VFL Bochum gespielt und die Emotionen der Stadionbesucher kochen. Bochum und der Ruhrpott, auf Kohle und Stahl gebaut, sind eine Welt für sich, und ich freue mich umso mehr, dass ich, so weit weg vom Ruhrgebiet, ein kleines Stück Bochum bei mir habe. An diese Zeit werde ich immer gerne zurückdenken!

Philipp Dippl

 

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