Jede Art von technischem Fortschritt hat positive und weniger positive Seiten. Das liegt in der Natur der Dinge. Typisch ist, dass zu Beginn einer neuen technischen Entwicklung deren Vorteile meist überhöht eingeschätzt und die Nachteile übersehen oder oft auch nicht vorhergesehen werden können.

Als zum Beispiel in den 1960-er Jahren die Kernkraft in die Phase ihrer friedlichen Nutzung für die Energieerzeugung trat, dominierten unter den Experten „himmelhoch jauchzende“ Prognosen, das nun das Energieproblem der Menschheit für alle Zeit gelöst wäre. Das Hauptproblem der Kernenergienutzung – die sichere Aufbewahrung hochradioaktiver Rückstande über tausende von Jahren, wurde heruntergespielt oder wurde gar nicht gesehen. Heute hat diese Art der Stromgewinnung mit weltweit etwa 10 Prozent einen Platz gefunden, der extrem weit unter den damaligen Prognosen liegt.

In Hinsicht des einseitigen Optimimus zumindest wiederholt sich die Technikgeschichte. Heute sind wir ab einer bestimmten Bildungs- und Leistungsebene bestens mit Handy, Blackberry und Laptop ausgestattet. Der moderne Mensch, auf jeden Fall aber der kleine und große Manager, kommuniziert simultan und überall. Beim Erscheinen der ersten Handys zu Anfang der 1990-er Jahre gab es noch eine zeitlang spezielle Firmen, die man beauftragen konnte, zeitgenau anzurufen, um seinen Gästen die Wichtigkeit und Unabkömmlichkeit seiner Person beispielsweise bei einem Restaurantbesuch vorzuspielen. Solche Tricks sind heute nicht mehr nötig, schließlich werden die Kinder de facto schon mit einem Handy geboren und sie können nach Verlassen der Mutterbrust ohne ein solches selbstverständlich nicht normal existieren. Erreichbarkeit ist alles und sei es auch zum noch so nichtigen Anlass. Auf den Geist geht das vor allem im Konzert, im Kino, im Restaurant, zumal die Wichtigkeit dann noch durch exzentrische Klingeltöne und lautes und langes Sprechen unterstrichen werden muss. Vom Hocker bin ich allerdings neulich gefallen, als mir hiesige Bekannte, beschäftigt im Personalmanagement eines Handelsunternehmens, erzählten, dass sie hundert Dollar Strafe zahlen müssen, wenn sie den Handyabruf nicht umgehend beantworten. Egal zu welcher Tages- und vor allem Nachtzeit.

Klar, unser Wirtschaftssystem lebt davon, dass wir Zeit gewinnen. Zeit ist Geld, und nur über Zeitgewinn kann Wachstum generiert werden. Mittlerweile aber sind die meisten Wirtschaftsprozesse und oftmals auch unsere persönlichen Lebensabläufe hochgradig optimiert. Viel schneller können wir kaum noch werden; wir können unsere Arbeits- und Lebenszeit höchstens noch verdichten, indem wir versuchen, mehreres gleichzeitig zu machen. Das erwartet man auch vom modernen Manager, was jedoch illusorisch ist. Unsere Abhängigkeit von der modernen Kommunikationstechnik beginnt mittlerweile eher kontraproduktiv zu wirken. Das hängt natürlich zu einem bestimmten Teil auch vom konkreten Menschen ab, schließlich kann man sich auch ohne Not selbst in kommunikative Abhängigkeiten begeben, sprich am Handy hängen und sehnsüchtig auf das nächste Klingeln warten. Klingelt es eine zeitlang nicht, bekommen manche ja wohl schon Entzugserscheinungen. Wie haben wir denn das alles bloß früher gemacht, als es dieses viele Zeug noch gar nicht gab?

Die möglichen negativen Folgen des Kommunikationsstresses kann man hierzulande täglich beim Benutzen des Handys durch Autolenker beobachten, sogar bei Busfahrern. Kürzlich hat eine US-amerikanische Firma 500.000 Dollar Strafe zahlen müssen, weil ihr Mitarbeiter beim Telefonieren während der Fahrt einen Unfall verursacht hat. Kleine Ursache, große Wirkung. Dramatischer sind die Kosten allerdings durch die ständige Ablenkung durch die Kommunikationstechnik am Arbeitsplatz. 28 Milliarden Arbeitsstunden werden in den USA jährlich vergeudet, weil man auf jedes, das Eingehen einer E-Mail signalisierende Piepsen des Computers, anspringt und erstmal nachschaut, was so eingegangen ist. Oft ist es sowieso Spam: das sind 80 Prozent der täglich weltweit verschickten 60 Milliarden Mails. Aber man weiß ja nie! Auf jeden Fall dauert es dann einige Minuten, bei Managern im Durchschnitt sogar 25 Minuten, bis man sich wieder in die unterbrochene Arbeit rein gefunden hat.
Die Folgen der informellen Überlastung können für den Einzelnen dramatisch sein. Stress, Konzentrationsmangel, Unruhe und Gereiztheit sind typische Symptome. Das alles kann sogar den eigenen Arbeitsplatz gefährden. Wer zu vielen Informationen ausgesetzt ist und immer mehr Dinge erledigen will, kann sich irgendwann nicht mehr konzentrieren, wird aggressiv und rastlos. Diese neue Managerkrankheit hat den Namen ADT (Attention Deficit Trait) bekommen, also eine Konzentrationsschwäche bei Kopfarbeitern. 40 Prozent aller Manager sind davon schon befallen.

Wir informieren uns mit Hilfe der leichten und billigen Kommunikationstechnik also krank. Wir benachrichtigen uns gegenseitig manchmal dumm. Wir werden unsicher und provozieren Chaos und damit Konflikte, aber wir sind – wenn wir wollen – selbst auch die Lösung. Deswegen gebe ich meine Handynummer nur im großen Ausnahmefall weiter, schon deshalb, weil ich sie sowieso nicht im Kopf habe. Da muss Platz sein für Wichtigeres.

Bodo Lochmann

04/07/08

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