Die 22-jährige Christina Steinbrecher ist für vier Wochen Praktikantin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Almaty. Das Besondere an ihrem Aufenthalt: Christina ist ursprünglich in Taldykurgan im Osten Kasachstans geboren und vor 15 Jahren zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland ausgereist. Zum ersten Mal zurück in der Heimat, nutzt sie ihre Zeit in Almaty vor allem für Begegnungen und intensive Gespräche mit den Einheimischen vor Ort.

Wasserstoffblonde Haare, schicker Hosenanzug, akzentfreies Deutsch – nichts deutet auf ihre russlanddeutschen Wurzeln hin. Und doch unterscheidet sich Christina Steinbrecher von anderen deutschen Studentinnen ihres Alters. Egal, ob sie mit dem gestressten Bankmanager der Kasachischen Nationalbank oder dem zahnlosen Taxifahrer auf den Straßen Almatys spricht – sie bleibt stets freundlich und hört aufmerksam zu; jeden noch so kleinen Fetzen an Information nimmt sie wissbegierig auf. Christinas Augen leuchten, wenn sie von einem ihrer unzähligen Gesprächstermine in die Friedrich-Ebert-Stiftung zurückkehrt. „Der Mann war so freundlich. Er hat mir unglaublich viele interessante Hinweise gegeben und weitere Ansprechpartner vermittelt.” Und nach einem raschen Blick auf ihre silberne Armbanduhr fährt sie fort: „Schon zwei Uhr. In einer halben Stunde habe ich mein nächstes Treffen an der Deutsch-Kasachischen Universität.” Christina ist für vier Wochen Praktikantin in der Friedrich-Ebert-Stiftung und schreibt aus eigenem Interesse einen Bericht über die kasachische Wirtschaft. Das Klackern ihrer schwarzen Absatzstiefel verhallt langsam im Korridor des Deutschen Hauses in Almaty. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis sie erneut mit strahlendem Gesicht auftaucht, um von weiteren Eindrücken ihrer zahllosen Treffen zu berichten.

Kindheit in Taldykurgan

Christinas Familiengeschichte ist lang und kompliziert. Über die genauen Daten ist sich die 22-Jährige selbst nicht im Klaren. In ihrem derzeitigen Zuhause – dem Wohnzimmer ihrer Tante in Almaty – beginnt sie mit ruhiger Stimme von ihrer Vergangenheit zu erzählen „Im Prinzip fing alles damit an, dass meine Urururgroßahnen im 18. Jahrhundert von Hessen ins Wolgagebiet ausgewandert sind. Dann kamen die Deportationen unter Stalin. Mein Vater ist bereits in Taldykurgan geboren, meine Mutter kommt ursprünglich aus dem Altaigebiet. Die Großeltern mütterlicherseits sind beide deutsch, die Eltern meines Vaters sind halb deutsch, halb russisch.” Ihre Familie sei sich immer ihrer deutschen Wurzeln bewusst gewesen. Auch sie selber habe sich bereits mit drei Jahren eher deutsch als russisch gefühlt. „Für mich und meine Familie stand fest, dass wir – sobald es möglich sein würde – nach Deutschland ausreisen.” Ende der 80er Jahre war es dann endlich soweit: Nachdem Christinas Familie sechs Jahre auf den Ausreisebescheid gewartet hatte, kam 1990 nach langem Hoffen die Erlaubnis, in Deutschland ein neues Leben beginnen zu können.

Erste Jahre in der neuen Heimat

Christina erzählt und erzählt bis in den späten Nachmittag. Im Zimmer ihrer Tante ist es mittlerweile dunkel geworden. Die blonde Studentin sitzt mit überkreuzten Beinen auf dem Sofa und blickt gedankenverloren aus dem Fenster. „Der Anfang in Deutschland war für meine Eltern und meine Brüder nicht gerade einfach”, meint sie, ohne auf ihre eigenen Gefühle von damals einzugehen. Christina war sieben Jahre alt, als ihre Eltern sie aus dem russischsprachigen Kindergarten in Taldykurgan nahmen und sie von einem Tag auf den anderen in Bergisch-Gladbach heimisch werden sollte. Heute ist sie froh darüber, in einer komplett deutschen Nachbarschaft groß geworden zu sein. „Ich hatte damals von Anfang an nur deutsche Freundinnen, mit der Integration hatte ich nicht so große Schwierigkeiten wie jene Aussiedler der späteren Generation, die in regelrechten ‚Ghettos’ angesiedelt wurden.” Ihre beiden älteren Brüder holten zunächst das Abitur nach, heirateten kurze Zeit später und bauten sich rasch ihre eigenen Existenzen auf. Für ihre Eltern war das Eingewöhnen schon schwieriger. Obwohl beide eine Anstellung bei der deutschen Firma „Krüger” fanden, trauerten sie lange Zeit ihren früheren Jobs in Taldykurgan hinterher. Ihr Vater hatte dort die kasachische Leichtathletikmannschaft trainiert, während ihre Mutter als leitende Managerin eines großen Einkaufszentrums arbeitete.

Früher Einstieg in die Arbeitswelt

Mittlerweile ist es halb sechs. Die große Wanduhr tickt laut in dem Zimmer mit den wenigen Möbelstücken. Christina hat um sieben ihren nächsten Termin. Während sie mit geübten Gesten ihr Make-up aufträgt, beginnt sie endlich, von sich selbst zu erzählen: „In der Grundschule war ich immer Klassenbeste. Für mich war schon von klein auf klar, dass ich studieren wollte.”

Mit dreizehn Jahren habe sie begonnen, neben der Schule zu arbeiten. Erst habe sie Zeitungen ausgetragen, dann in Cafes gejobt und schließlich nach der elften Klasse jedes Wochenende im Kundendienst bei Mercedes gearbeitet. Nach einem kritischen Blick in den Spiegel meint sie: „Ich wollte ganz einfach mehr von der Welt sehen.“ Mit Hilfe ihrer Ersparnisse konnte sie das elfte Schuljahr in Yorkshire in Großbritannien verbringen und einige Reisen durch Europa und die USA anschließen. Ihr Lebenslauf zeigt außerdem Praktika in Sankt Petersburg und Moskau. Seit zweieinhalb Jahren studiert Christina nun „Internationale Wirtschaft” im niederländischen Maastricht, und geht – nach ihrem Praktikum in Almaty – für ein Auslandssemester nach Spanien.

Zurück in Kasachstan

Das Telefon klingelt und unterbricht Christinas Redeschwall. Russische Gesprächsfetzen dringen durch die kaum isolierende Wohnzimmertür. Ihre Stimme klingt lebendiger, wenn sie russisch spricht. „Viele Grüße von meiner Tante”, flötet sie, als sie – mittlerweile fertig gestylt – ins Zimmer zurückkehrt. Für die Zeit ihres Praktikums in Almaty hat die 22-Jährige bei ihrer Tante in Almaty Unterschlupf gefunden. Auf die Frage, warum die Schwester ihres Vaters damals nicht mit nach Deutschland gegangen sei, zuckt Christina ein wenig bedauernd mit den Schultern: „Meine Tante wurde immer wegen ihres „Deutsch-Seins” gehänselt. Schon in der Grundschule ist sie von ihren Klassenkameraden deswegen aufgezogen worden. Deshalb hat sie als junge Erwachsene ihre Nationalität im Pass von ‚Deutsche’ auf ‚Ukrainerin’ umschreiben lassen.” Ob die Tante diese Entscheidung mittlerweile bedauert, weiß Christina nicht so genau, traut sich auch nicht, das heikle Thema anzusprechen. Fest steht nur eines: Als Ukrainerin hat die Schwester ihres Vaters heute keine Möglichkeit, einen Bescheid für die Ausreise nach Deutschland zu beantragen.

Auch in Taldykurgan – ihrem Geburtsort – ist Christina bereits gewesen. „Ich habe sofort unser altes Haus erkannt. Es ist alles noch genau wie damals – ohne fließendes Wasser, und die Toilette befindet sich draußen im Hof.” Ihren alten Kindergarten gebe es jedoch nicht mehr, der sei während nach Perestroika von den Einwohnern des Dorfes restlos geplündert worden. „Die Lebensbedingungen in Kasachstan müssen schrecklich gewesen sein – meine Verwandschaft in Taldykurgan hat über ein Jahr ohne Strom gelebt. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde aus den öffentlichen Gebäuden geplündert – egal ob Wertgegenstände, Türen oder Fensterrahmen zum Verfeuern. Ich bin froh, dass wir vor den harten Jahren das Land verlassen haben.” Wenn Christina von ihrer fernen Verwandtschaft in Kasachstan erzählt, trüben sich ihre Augen. „Ich habe einen Großonkel – er ist ein begnadeter Künstler –, doch fehlt ihm ganz einfach das nötige Geld, um seine Werke einem internationalen Publikum präsentieren zu können.”

„Von der Küchenhilfe bis zum Rechtsanwalt“

Obwohl Christina ihr Wirtschaftsstudium mit großem Interesse betreibt, scheint sie sich über ihre spätere berufliche Zukunft noch nicht so recht im Klaren: „Ich sehe keinen wirklichen Sinn darin, mein Leben lang in einem großen Unternehmen in der Marketingabteilung zu sitzen – und ohne Sinn fällt es mir schwer, mein Bestes zu geben”, zweifelt sie. Aus diesem Grund absolviere sie ihr derzeitiges Praktikum bei einer politischen Stiftung. „Für ein Businessunternehmen fehlt mir wahrscheinlich das nötige Profitstreben. Ich würde in meinem späteren Berufsleben gern etwas bewirken und verändern – und warum nicht in Kasachstan?”

Doch auch eine Zukunft in der Wirtschaft schließt sie nicht vollständig aus: „Ich kann mir durchaus vorstellen, mich später in Russland oder in Kasachstan selbstständig zu machen und ein eigenes Unternehmen zu gründen.” Eine vage Idee habe sie auch schon, doch sei es noch zu früh, über ihre Pläne zu sprechen. Schließlich wolle sie die von ihr entdeckte Marktlücke nicht an andere Existenzgründer verlieren. Sie sagt: „Doch bevor ich mich für ein bestimmtes Berufsfeld entscheide, möchte ich verstehen, wie die Menschen in Kasachstan ticken. Mich interessiert einfach jeder, von der Küchenhilfe über den Verkäufer bis zum Rechtsanwalt.”
Auf die Frage, ob sie sich eher in Deutschland oder in Kasachstan heimisch fühle, meint sie: „Ich bin Deutsche, Deutschland ist meine Heimat. Ein kleiner Teil in mir wird allerdings immer russisch bleiben. So ist Gastfreundschaft für mich sehr wichtig – wichtiger vielleicht als für meine deutschen Freundinnen.” Und ein wenig amüsiert fährt sie fort: „Mit anderen Traditionen kann ich allerdings weniger anfangen. In Russland heiraten die meisten jungen Frauen schon Anfang zwanzig, damit möchte ich mir auf jeden Fall noch Zeit lassen und erst einmal mehr von der Welt sehen.” Nachdenklich wandert ihr Blick hinüber zu der großen Uhr an der Wand und erschrocken bemerkt sie: „Schon halb sieben, ich muss los!” Sie nimmt ihre schwarze Handtasche vom Garderobenständer, wirft einen letzten prüfenden Blick in den antiken Wandspiegel und macht sich im schicken Outfit auf den Weg zu ihrem nächsten Termin.

Von Angela Lieber

03/02/06

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