Langsam, aber umso spannender: Mit dem Zug von Moskau nach Almaty zu reisen, hält so manche Überraschung bereit. Die Abenteuer einer Deutschen in der „Holzwagenklasse“ – zwischen Schäferhunden, Riesenmelonen und einem Tornado.

Bangenden Herzens sitze ich in der riesigen Wartehalle des Moskauer Pawelezki-Bahnhofs. Unsicherheit macht sich breit: Hätte ich doch lieber auf meine russischen Bekannten in Deutschland hören sollen? Als ich ihnen von meinem Vorhaben erzählte, starrten sie mich nur an, als sei ich verrückt. Allein, als junge Frau, dreieinhalb Tage, 4000 Kilometer von Moskau nach Almaty – mit „Platzkarty“ – der sogenannten Holzwagenklasse?! „Pass bloß auf, dass dir nichts geklaut wird“, „Lass dich auf keinen Fall zum Wodkasaufen verführen“ und „Da drin wird es stickig; ungefähr 40 Menschen zusammengepfercht in einem Waggon, ohne Klimaanlage, bei 50 Grad durch die Wüste“ – die schockierten Reaktionen reizten mich umso mehr, die Vorurteile selbst zu überprüfen.

Wie im Rausch spaziere ich inmitten des hektischen Treibens langsam den Bahnsteig entlang: Runde, asiatische Gesichter lächeln mich an. Der hellblaue Zug mit dem gelben Geschnörkel mutet orientalisch an und strahlt prachtvoll durch die laue Nacht. Bei meinem Waggon angekommen, macht mir der Schaffner ungeduldig Druck, endlich einzusteigen. Also zwänge ich tapfer meinen schweren Koffer durch den engen Gang.

Ein Schlaraffenland für den hungrigen Magen

Bettbezieh-Zeit: Erst die Matratze auf der Lederablage ausrollen, dann die restlichen fünf Laken irgendwie in die richtige Reihenfolge bringen – ich versinke im Chaos, doch irgendwann ist es geschafft. Dank meiner Ohrenstöpsel bleibe ich von einer Gratisvorstellung des Schnarchorchesters verschont und lasse mich von dem gleichmäßigen Rattern des Zuges in einen erholsamen Schlaf wiegen.

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In meiner Ecke sitzt bereits eine ältere Dame. Sie meint, die zwei Männer, welche im Abteil mitfahren, kämen gleich und würden mir mit dem Koffer helfen. Die Betten sind so angeordnet, dass sie immer ein Sechserabteil ergeben: Zwei Hochbetten stehen seitlich und eins am Kopfende. Bei der freundlich dreinschauenden Frau kommen sogleich Muttergefühle auf, als ich anfange, in gebrochenem Russisch auf sie einzureden. Ob ich denn ganz alleine unterwegs bin? Und ob mir nicht langweilig werden würde? Mitleidig mustert sie mich. Da ich nicht viel verstehe, kapiere ich erst nach wildem Gestikulieren, dass Wasja, wie sich einer der zwei Männer vorstellt, freundlicherweise das Bett mit mir tauschen will. So kann ich mich unten ausbreiten, während er sich in die obere Schlafecke zwängt. Das hat zugleich den Vorteil, dass ich meine Wertsachen in dem Kasten unter meinem Bett verstauen kann. Keine Chance für Diebe also, denn nachts schlafe ich darauf.

Bangen bei der Grenzkontrolle

Träume ich noch? Verunsichert recke ich mich – direkt vor meiner Nase ist ein Schlaraffenland für den hungrigen Magen ausgebreitet: Hähnchen, Eier, Brot, Gemüse, Kartoffeln und noch mehr Hähnchen türmen sich auf Augenhöhe. Darüber auffordernde Blicke: „Dawai, dawai!“ – „Nur zu, nur zu!“ Dankbar greife ich vorsichtig nach einem Stück Hühnchenfleisch. Aufmunternd nicken mir meine Abteilgefährten Oleg, Wera und Wasja zu, drücken mir Gemüse in die Hand.

Bedrohlich schnell rast der Zug gen Wüste, vorbei an spärlicher Bewaldung und vereinzelten Siedlungen. Der holzbeheizte Wasserkessel am Eingang des Waggons brodelt: Hier beim Schaffner kann man heißes Wasser für Tee und Suppen zapfen. In Saratow staune ich über die Größe der Wolga. Wera beruhigt mich ob meiner Angst vor der Wüstenhitze: Im Zug gebe es eine Klimaanlage. Beruhigt schlafe ich ein.

Rabenschwarze Nacht. Plötzlich bleibt der Zug mit einem Ruck stehen, mitten in der Pampa – die erste Grenzkontrolle zwischen Russland und Kasachstan. Ein Polizist bahnt sich mit einem deutschen Schäferhund den Weg durch den Waggon, die Pässe werden überprüft. Trotz der angespannten Stimmung gibt mir der deutsche Hund ein Gefühl von Vertrautheit. Kaum zwei Stunden später die nächste Grenzkontrolle – nachdem wir bereits in Kasachstan waren, müssen wir noch einen Zipfel von Russland durchqueren. Ich bange um mein Visum, da es nur für eine einmalige Einreise nach Russland bestimmt ist. Doch es scheint alles in Ordnung zu sein. Nebenan schnarcht ein dicker Kasache friedlich vor sich hin. Der Schaffner weckt ihn entnervt. Schon bald findet der Zug in sein gewohntes eintöniges „Rattata-Rattata“ zurück und rauscht hinaus in die Nacht.

Der Bahnsteig lebt

Am nächsten Morgen dann der große Schock: Die Klimaanlage funktioniert nicht! Ich versuche, mich durch Smalltalk mit meinen Reisegefährten, Essen, Schlafen, Lesen und Aus-dem-Fenster-gucken von der anbahnenden Gefahr abzulenken. „50 Grad ohne Klimaanlage, wie soll ich das nur überleben?“, frage ich mich verzweifelt.

Der Schaffner kennt mich schon. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbei laufe, fragt er euphorisch trotz seiner dürftigen Englischkenntnisse: „Christine, how are you?“ Auch im Waggon hat es sich herumgesprochen, dass ich eine „Inostranka“, eine Ausländerin bin. So posieren die Menschen begeistert vor meiner Kamera und testen ihre spärlichen Deutschkenntnisse. Da ist die Mutter, an deren Seite sich ein kleines Kind schmiegt, die alte aufgedrehte Kasachin, der usbekische Professor, der so stolz auf seine Englischkenntnisse ist, dass er mich vor Begeisterung vollspuckt, und der alte Usbeke, der stets für gute Laune im Abteil sorgt. Langsam wechselt die Landschaft von der Steppe zu immer dürftiger bewachsener Wüste. Schaisan, Aktöbe, Schalkar – egal wo der Zug mit einem lauten Quietschen zum Stehen kommt, eilen alte Babuschkas und junge Kinder heran, verkaufen je nach Region saftige Melonen, getrocknete Fische und Äpfel. Ein Verkäufer schreit im Wettstreit mit dem nächsten – der Bahnsteig lebt. Ein Uniformierter ruft mir zu: „Fotografieren verboten!“ Ertappt packe ich schnell meine Kamera weg.

Eine Dusche mit Turbulenzen

Kuh- und Ziegenherden, wilde Pferde, Esel und Kamele ziehen an der vom Wüstensand verstaubten Fensterscheibe vorbei. Sogar vor einem Tornado bleiben wir nicht verschont, den ich euphorisch mit der Kamera jage. Vielleicht hilft ja eine Dusche zur Abkühlung? Mit Flip-Flops und einer leeren Wasserflasche bewaffnet, mache ich mich auf den Weg in Richtung Toilette. Zum Duschen füllt man Wasser in die Flasche und gießt sie über sich. Dafür gibt es extra ein Loch im Boden des engen Waschraums. Jedoch bleibt mir die Erfahrung, einmal in der kasachischen Eisenbahn zu duschen erspart. Mitten in der Wüste ist das Wasser so trüb vom Sand, dass der Duscheffekt gleich Null wäre.

Plötzlich kommt der fröhliche Usbeke mit einer Riesenmelone an. Ich freue mich, wenigstens auf diese Art eine kleine Abkühlung zu bekommen. Unaufhörlich tuckert der Zug in Richtung Berge. Der Schaffner zeigt mir stolz seinen von sanften Hügeln umgebenen Heimatort. Oleg verabschiedet sich in Schymkent, Wasja und Wera in Schu. Wir tauschen Adressen und Herzlichkeiten aus, Wera lässt mir sämtliches Proviant da. Schweren Herzens verabschiede ich mich von meiner Zug-Mami.

Im Morgengrauen dann Aufbruchsstimmung: Jeder richtet sich, so gut er eben kann. Eine Wolke aus Parfüm umhüllt mich. Und endlich sind sie da: Die Berge! Innere Jubelschreie, Glücksgefühle. Geschafft! Almaty strahlt mich in der Morgendämmerung an. Frohen Mutes und um eine kostbare Erfahrung reicher stürze ich mich in das wilde Treiben der Stadt.

Mehr über meine Zeit in Almaty gibt es auf dem Blog www.anywaythewindblowsxx.wordpress.com zu lesen.

Von Christine Faget

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